Boogie Nights (1997)
Magnolia (1999)
Punch Drunk Love (2002)





Boogie Nights
(Boogie Nights)
USA 1997, 154 Minuten
Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson
Musik: Michael Penn
Director of Photography: Robert Elswit
Montage: Dylan Tichenor
Produktionsdesign: Bob Ziembicki, Ted Berner, Sandy Struth

Darsteller: Mark Wahlberg (Eddie Adams / Dirk Diggler), Burt Reynolds (Jack Horner), Luis Guzmán (Maurice T. Rodriguez), Julianne Moore (Amber Waves / Maggie), Don Cheadle (Buck Swope), Philip Baker Hall (Floyd Gondolli), Heather Graham (Rollergirl / Brandy), Philip Seymor Hoffman (Scotty J.), Thomas Jane (Todd Parker), William H. Macy (Little Bill), Ricky Jay (Kurt Longjohn), John C. Reilly (Reed Rothchild), Robert Ridgely (Colonel James), Alfred Molina (Rahad Jackson), Nicole Ari Parker (Becky Barnett)

Boogie, can you boogie

Stimmungen einzufangen, Atmosphären nachzuzeichnen und Situationen als völlig selbstverständlich darzustellen, die uns außergewöhnlich, ja fast „exotisch“ anmuten, gehört zu den Fähigkeiten, die Paul Thomas Anderson nicht erst durch „Magnolia“ und „Punch-Drunk Love“ als Regisseur auszeichnete. In dem 1997 gedrehten „Boogie Nights“ lässt uns Anderson in die Zeit von Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre eintauchen, in ein Milieu, das klar umschrieben scheint: die Pornofilm-Industrie. Der Film beginnt im Jahre 1977, einer Zeit, in der viele Regisseure meinten, sie könnten anspruchsvolle, künstlerisch wertvolle pornografische Filme drehen. Mit „Boogie Nights“ begab sich Anderson voll und ganz in dieses Milieu, aber er drehte keinen pornografischen Film.

Der junge Eddie Adams (Mark Wahlberg) verlässt sein Elternhaus. Seine Mutter hält ihn für einen Versager. Er arbeitet in einem Nachtclub im San Fernando Valley und trifft dort auf die Größen der Pornoindustrie. Zu den von der künstlerischen Qualität ihrer Filme überzeugten Regisseuren gehört auch Jack Horner (Burt Reynolds), der eine ganze Reihe von Leuten um sich versammelt hat, u.a. den Pornostar Amber Waves (Julianne Moore), die eigentlich Maggie heißt und der ihr Mann den gemeinsamen Sohn wegnehmen hat lassen, weil Amber in Pornofilmen auftritt. Wir treffen auf den Darsteller Buck (Don Cheadle), einer der Stars in Horners Filmen, dessen sehnlichster Wunsch eine eigene Familie ist. Zu Horner gehört auch Brandy (Heather Graham), die sich Rollergirl nennt und ihre Rollerskates nie auszieht, die Schule verlassen hat und ebenfalls in Filmen mitwirkt. Zu den Mimen gehört auch Reed Rothchild (John C. Reilly), der sich mit Eddie anfreundet. Horners Assistent ist Little Bill (William H. Macy), dessen Frau (gespielt von Pornostar Nina Hartley) sich ständig mit anderen Männern einlässt, einmal gar auf der Straße, umringt von interessierten Zuschauern aus Horners Truppe.

Weiterhin sehen wir Maurice (Luis Guzmán), einen Clubbesitzer, der gern in einem von Horners Filmen mitwirken würde. Hinter der Kamera steht Kurt Longjohn (Ricky Jay) ein ruhiger, gelassener Mann, der von seiner Kunst als Kameramann überzeugt ist. Finanziert werden Horners Filme von Colonel James (Robert Ridgely), dem Horner auch Eddie als Neuentdeckung vorstellt. Eddie hat nämlich ein Kapital, das ihn reich machen könnte. „Ich habe das Gefühl“, sagt Horner, „dass in deinen Jeans etwas Wundervolles darauf wartet, enthüllt zu werden.“ Ganze 33 Zentimeter misst Eddies Wunderwaffe, und nicht nur das: Eddie hat eine enorme Ausdauer, wenn es darum geht, sagen wir es einmal so, die zentrale Voraussetzung an einen männlichen Pornodarsteller mehrfach hintereinander zu erfüllen.

Longjohn ist begeistert, Eddie legt sich einen Künstlernamen zu und wird als Dirk Diggler zum neuen Star am nackten Himmel. Eddie / Dirk wird vermögend, kauft sich ein Haus und ist davon überzeugt, dass jeder Mensch eine bestimmte Fähigkeit besitzt, aufgrund derer er es im Leben zu etwas bringen kann.

Als dann in den 80er Jahren Videotechnik zunehmend den Markt erobert, leidet die Kino-Porno-Industrie zunehmend darunter, und Horner und die Menschen um ihn herum müssen sich etwas einfallen lassen, wie sie weiter leben und arbeiten können ...

Anderson zaubert eine derart „natürliche“ Atmosphäre in der sozialen Umgebung um Horner, dass es einem manchmal die Sprache verschlägt. Lediglich Little Bill kommt mit der Selbstverständlichkeit, in der zwischen Sexualität im Leben und Pornografie im Film kaum ein Unterschied mehr gemacht wird, nicht zurecht. Er greift schließlich zur Waffe. Alle leben in einer gebrochenen Welt, in der Jack Horner als eine Art Vaterfigur seine Familie um sich schart. Horner lebt mit Amber und Rollergirl in einer Villa, wie ein Vater mit Frau und Tochter. Amber, die für einige Filme mit Dirk schläft, sieht in ihm eine Art Ersatz-Sohn für ihren eigenen Sohn, den dessen Vater ihr entzogen hat. Rollergirl fühlt sich in dieser Atmosphäre wohl, während sie mit Schule wenig am Hut hat. Später allerdings, als wegen des Aufkommens von Videos die Pornofilmindustrie niedergeht, beschließt sie, ihren College-Abschluss nachzuholen.

Nie sehen wir Horner bei sexuellen Aktivitäten; er erscheint – so sehr er auch entsprechende Filme dreht – geradezu als ein Mann, der in Enthaltsamkeit lebt, um sich voll und ganz um seine Großfamilie kümmern zu können. Trotz der Zerbrechlichkeit dieses Milieus, dem Verlust von „normaler“ wirklicher Bindung, porträtiert Anderson seine Figuren nicht als hartgesottene und abgefeimte Individuen, die nichts als ihr Handwerk im Kopf haben. Das wird besonders deutlich, als die Pornoindustrie vom Kino zum Video wechselt. Eddie bekommt kurz zuvor einen Konkurrenten vor die Nase gesetzt, Little Bill scheitert, Amber grämt sich über den Verlust ihres Sohnes.

„Boogie Nights“ hat Esprit, Humor, enthält viele tragische Momente und zeigt den Fall eines Pornostars und die inhumanen Faktoren der Pornoindustrie, aber auch die Versuche seiner Protagonisten, dem entgegen zu steuern. Dabei fällt der Film nicht ab in Klischees über sein Thema und die Handelnden. Sex wird einerseits verkauft wie jede andere Ware oder Dienstleistung, andererseits wird deutlich, welche Dissonanzen und Brüche die Beschäftigung in der Branche mit sich bringt. Ähnlich wie Scorsese in „Goodfellas“ oder Coppola in „Der Pate“ in bezug auf die Strukturen im Bereich des organisierten Verbrechens und auf die diesbezüglichen Lebensweisen und Mentalitäten führt Anderson ein Milieu als Normalität vor, das uns emotional und hinsichtlich der Verhaltensweisen so fern ist; gleichzeitig gelingt es ihm jedoch, zu den Personen eine emotionale Nähe zu erzeugen, weil deren Sehnsüchte und Defizite sich von den unsrigen kaum unterscheiden.

Auch wenn Sexualität hier zu einer mechanischen Verrichtung verkommt, bei der „Gefühle“ nicht viel mehr bedeuten als professionell betriebene „Technik“ – man betrachte etwa die erste sexuelle Handlung zwischen Eddie und Amber vor der Kamera –, brechen die emotionalen Defizite und Sehnsüchte an allen Ecken und Enden dann eben doch durch. Alternativen zum niedergehenden Pornokino im kriminellen Milieu (etwa als Eddie, Scotty, gespielt von Philip Seymor Hoffman, und Ex-Party-Boy Todd, gespielt von Thomas Jane, einen Drogendealer berauben wollen) sind keine wirklich gangbaren Wege.

Mark Wahlberg, Julianne Moore und vor allem Burt Reynolds, aber auch die anderen Darsteller, die in vielen Subplots zu sehen sind, leisten hervorragende Arbeit.

Einen roten Faden durchzieht Andersons Schaffen von „Boogie Nights“ über „Magnolia“ (1999) bis zu „Punch-Drunk Love“ (2002): die teilweise verfremdete, sehr intensive und dicht inszenierte Visualisierung außergewöhnlicher Milieus und Figuren, die uns näher stehen, als wir vermuten. „Boogie Nights“, obwohl zweieinhalb Stunden lang, langweilt nie, sondern fesselt uns an diejenigen, die uns so fern zu stehen scheinen.



Magnolia
(Magnolia)
USA 1999, 188 Minuten
Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson
Musik: Jon Brion
Director of Photography: Robert Elswit
Montage: Dylan Tichenor
Produktionsdesign: Bill Arnold, Mark Bridges

Darsteller: Jason Robards Jr. (Earl Partridge), Julianne Moore (Linda Partridge), Tom Cruise (Frank Mackay), Philip Seymour Hoffman (Phil Parma), John C. Reilly (Officer Jim Kurring), Melora Walters (Claudia Wilson Gator), Jeremy Blackman (Stanley Spector), Michael Bowen (Rick Spector), William H. Macy (Donnie Smith), Philip Baker Hall (Jimmy Gator), Melinda Dillon (Rose Gator), Emmanuel Johnson (Dixon), Luis Guzmán (Luis), Henry Gibson (Thurston Howell), April Grace (Gwenovier), Ricky Jay (Burt Ramsay), Alfred Molina (Solomon Solomon)

„... aber die Vergangenheit nicht mit uns“

Ein kurzes, Bruchteile von Sekunden dauerndes Lächeln, ein leichtes, vorsichtiges, fast zärtliches Lächeln, wie ein hauchdünner Hoffnungsstrahl beendet „Magnolia“. Claudia, die nie gelächelt zu haben scheint, die keine Freude in ihrem Leben hat, Claudia, die derart verletzt wurde, wie man einen Menschen nur verletzen kann, Claudia lächelt einen winzigen Moment nur, aber genau dieser Augenblick verschafft eine unbeschreibliche Erleichterung. Die Tränen können fließen, die Seele wird frei und vielleicht wird sie es auch bleiben – für Claudia.

Paul Thomas Anderson erzählt in „Magnolia“ – Name eines Boulevards im San Fernando Valley – die Geschichte einiger Menschen, die mehr miteinander zu tun haben, als sie glauben; im Grunde genommen erzählt er: Geschichte, nicht im Sinne der Rekonstruktion eines historischen Ereignisses, sondern in bezug auf unsere kulturelle Eigenart, unsere Befangenheit innerhalb der eigenen Kultur, wir erfahren etwas über Verletzung und Verzeihung, über Schmerz, Trugbilder und die falschen Schlüsse, die wir aus Ereignissen unseres Leben ziehen. über den Satz: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“

„Magnolia“ bietet keine Handlung im üblichen Sinn. Anderson verknüpft die Lebensgeschichten seiner Figuren in einer Art zirkulären Erzählung, die keinen sichtbaren Anfang und kein sichtbares Ende hat, aber winzige Chancen, dem Kreislauf von Geburt und Tod und dem, was dazwischen geschieht, eine andere Bedeutung zu geben. Reinigung und Erlösung sind die unmittelbaren Ziele, das Eingeständnis der eigenen Schuld die unbedingte Voraussetzung, um diese Ziele zu erreichen.

Wir treffen auf den todkranken, an Krebs leidenden TV-Produzenten Earl Partridge (Jason Robards), der von Phil Pharma (Philip Seymor Hoffman) gepflegt wird und ihm seine Sünden beichtet. Er liebte seine Frau, aber er betrog sie. Seine Frau heißt Linda (Julianne Moore) und ist angesichts des bevorstehenden Todes von Earl völlig verzweifelt und selbstmordgefährdet; sie steht unter Drogen. Erst jetzt, als Earl dem Tode nahe ist, wird ihr bewusst, dass sie ihn geliebt hat, sie, die ihn jahrelang mit anderen Männern betrogen und ihn nur wegen seines Geldes geheiratet hatte. Earl bittet Phil, seinen Sohn zu suchen, den er vor seinem Tod noch einmal sehen will.

Wir treffen auf Earls Sohn Frank Mackey (Tom Cruise, in einer seiner besten Rollen), der eine Macho-TV-Show unter dem Motto „Alle Macht den Schwänzen“ mit großem Erfolg (unter Männern) leitet. Frank will von Earl nichts wissen, er hasst Earl, weil der Franks Mutter verlassen und auch in der Zeit, als sie todkrank war, nicht einmal angerufen hatte. Als die Fernsehreporterin Gwenovier (April Grace) ihn interviewt, kommen allerlei Lügen über sein Leben ans Tageslicht, die Frank sich zurechtgelegt hatte, um seinem Leben eine Art positive (fast über-männliche) Logik zu geben.

Wir treffen weiter auf den Showmaster Jimmy Gator (Philip Baker Hall), ebenfalls krebskrank, der nur noch zwei Monate zu leben hat. Er leitet Earls beste Show „What did kids know?“, in der drei Kinder gegen drei Erwachsene in einem Quiz antreten. Gator versucht angesichts seines bevorstehenden Todes, sich mit seiner Tochter Claudia (Melora Walters, mit einer phantastischen Leistung) auszusprechen. Er gesteht seiner Frau Rose (Melinda Dillon), dass er sie betrogen habe. Anderes kann er dagegen nicht aussprechen. Claudia, die ständig Drogen nimmt, flüchtige Männerbekanntschaften hat und völlig am Ende scheint, schmeißt ihren Vater wütend hinaus. Claudia ist ein missbrauchtes Kind, missbraucht durch ihren eigenen Vater. Eines Tages klopft Officer Jim Kurring (John C. Reilly) wegen einer Beschwerde an ihre Tür. Kurring ist von Claudia begeistert, sucht sie ein zweites Mal, ein drittes Mal auf, bis sich beide nach Jims Dienstschluss verabreden.

An Gators Show nimmt Stanley Spector (Jeremy Blackman) teil, ein Superkind, das alles zu wissen scheint, angetrieben von einem ehrgeizigen Vater (Michael Bowen). Doch in einer Quizsendung weigert sich Stanley plötzlich, die Fragen Gators zu beantworten. Er will nicht mehr.

Und dann ist da noch Donnie Smith (William H. Macy), früher „Quiz Kid Donnie Smith“, wie Stanley war er als Kind gefeierter Showstar. Jetzt ist Donnie am Ende, entlassen von seinem Chef Solomon Solomon (Alfred Molina), unglücklich verliebt in einen Barkeeper, verzweifelt ...

„Magnolia“ ist ein klassisches Drama, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint. Zu Anfang stellt Anderson alle Figuren vor, zeigt ihre innere Verbundenheit, sei es über familiäre Strukturen, sei es über die Medien. Sodann erzählt er von ihrem Schmerz, ihren Fehlern, ihrer Tragik. Zum Schluss erfolgt die Reinigung, die Entlastung des Gewissens, es entsteht ein Moment der Hoffnung in all der Tragik.

Phil und Officer Jim – der Pfleger und der Polizist – sind diejenigen, die versuchen, soweit es möglich ist, Ordnung zu schaffen. Jim ist für Claudia ein „Notbehelf“, eine Krücke, aber da Jim Claudia liebt und Claudia instinktiv spürt, dass sie für Jim mehr empfindet, als in ihrem endlosen Hilferuf zum Ausdruck kommt, entwickelt sich zwischen beiden mehr als eine karitative Beziehung. Phil hält die Tragik der Familie Partridge / Mackay kaum aus. Oft stehen ihm die Tränen in den Augen. Er tut, was er kann, um Earl den Tod so erträglich zu machen wie nur möglich.

Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr die einzelnen Protagonisten auf Gedeih und Verderb gezwungen sind, sich selbst an den eigenen Haaren aus ihrem Sumpf zu ziehen. Earl zwingt der nahe Tod, sein betrügerisches Leben vor Phil einzugestehen. Linda zwingt der Tod ihres Mannes in eine fast aussichtslose Situation. Erst jetzt erkennt sie, dass sie ihren Mann geliebt hat, jetzt im Angesicht seines Todes. Sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber in „Magnolia“ existieren eben auch Glücksengel – und Kröten, die vom Himmel fallen und einiges verhindern, um den Handelnden keine Flucht vor sich selbst zu ermöglichen. Ein kleiner Junge, der Rap-Texte aufsagt, rettet Linda das Leben. Eine ins Haus von Jimmy stürzende Kröte verhindert, dass sich Gator erschießt. Eine andere Kröte zwingt Donnie, seine Fehler gegenüber Jim Kurring einzugestehen, der ihn trotz des Diebstahls, den Donnie begangen hat, nicht einbuchtet. Der nahende Tod Earls bringt Frank dazu, sich seinem Vater zu stellen. Die Liebe Jim Kurrings zwingt Claudia, sich ein Leben unabhängig vom Missbrauch vorstellen zu können.

Andersons Inszenierung ist eigentlich nicht das, was man einen Episodenfilm nennen könnte, Es existiert eine unterschwellige, teilweise ganz vordergründige Abhängigkeit aller Figuren voneinander. Als Stanley während der Quizshow dringend auf die Toilette muss, verweigert ihm die TV-Angestellte dies, weil in zwei Minuten die Show weitergehe. Für Stanley ist dies der Auslöser, um gegen die Position, in die ihn sein Vater und die Fernsehleute gebracht haben, die des Superkindes mit dem Superwissen, heftig und vor laufender Kamera zu protestieren. Er sei nicht der niedliche kleine Junge, der alles weiß und mit dem alle machen könnten, was sie wollten. Stanley – das ist die Figur in „Magnolia“, die Charakter zeigt, die der Verzweiflung, dem Betrug, der Ausnutzung, dem Missbrauch und all den Folgen, die dies hat, die Stirn bietet – öffentlich und offen. Stanleys Protest löst Gators Zusammenbruch aus. Der Einschnitt in die Logik der Show, in der alles nach Plan zu laufen hat und jetzt nicht mehr läuft, zwingt Gator in die Knie. Das Scheitern der Personen – Gator und Stanleys Vater – verknüpft sich auf eine kaum zufällige Art und Weise.

„Magnolia“ handelt von Missbrauch, nicht nur von sexuellem Missbrauch wie bei Claudia. Da steht eine „verkorkste“ Elterngeneration gegen eine „verkorkste“ Kindergeneration, hinter Masken (wie bei Frank mit seiner Macho-Show), Fassaden (wie bei Jimmy Gator als scheinbarer Saubermann des Fernsehens), hinter Lebenslügen (wie bei Earl und Linda, die ein glückliches Paar spielten und sich erst im Angesicht des Todes ihrer Liebe bewusst werden), hinter Ehrgeiz (wie Stanleys Vater, der in seinem Kind nur eine gewinnträchtige Investition sieht). Im Visier stehen die Väter – Gator, Partridge, Spector, letztlich auch Donnie Smiths Vater, der zwar im Film nicht auftaucht, aber in Donnies Verhalten präsent ist –, die Väter, die missbraucht haben – so oder so.

Dagegen steht Phil, der Helfer, der sensible Retter in der Not, der Schmerzen lindert, der tut, was er kann, der vermittelt. Dagegen steht Jim, der berufsmäßige Retter in der Not, der überbesorgte Polizist, der alles ins Lot bringen will, der Ordnung schaffen will. Beide haben Erfolg und scheitern doch zugleich. Sie, die Beobachter des Geschehens, diese beiden Engel auf Erden, bedürfen der Hilfe des Himmels. Kröten regnen vom Himmel, und sie vermitteln eindeutig, unumwunden, unbestreitbar, dass jetzt Schluss ist mit dem Weglaufen vor sich selbst (Gator will Selbstmord verüben, Donnie will in Selbstmitleid ertrinken usw.), mit den Lügen und den zurecht gebogenen Wahrheiten. Die unglaubliche Tragik und die ebenso überwältigende Erleichterung, die dieser Regen mit sich bringt, sind derart unerträglich, dass sie einem die Tränen in die Augen treiben – vor Wut, Enttäuschung, Freude, Entlastung und Glück zugleich.

Doch „Magnolia“ handelt eben nicht nur von Missbrauch, sondern auch vom Verzeihen. Beides steht in diesem Film so eng beieinander, ist derart verwurzelt miteinander, dass die Frage von Schuld, Sühne, Vergebung und Verzeihen aus dem üblichen Rahmen gerissen und in einen ganz anderen Kontext verschoben wird, einen Kontext, der das Weiter-Leben unabdingbar verknüpft mit dem ebenso unzertrenntlichen Zusammenhang von Schuld und Vergebung. „What did kids know?“ Manchmal mehr als die Erwachsenen, wie es Stanley exemplarisch vormacht. Oder das Lied von Aimee Mann, das plötzlich zeitgleich alle vor sich her singen.

Anderson demonstriert, wie trotz aller Aufklärung und trotz allen Glaubens an die Macht der Vernunft und des Verstandes, an die Planbarkeit unseres Lebens emotionale Verstrickungen unser Leben beherrschen. Wir müssen planen, kalkulieren, aber oft sind wir uns nicht darüber bewusst, wie sehr unsere Pläne scheitern können und welche Folgen dies für uns und andere haben oder haben kann. Anderson demonstriert im Zeitalter der Rationalität die Irrationalität des menschlichens Lebens.

„Magnolia“ ist vollgestopft mit Geschichten, Hauptlinien und Nebenlinien, die zu Hauptlinien werden, Geschichten und Geschichte, Kultur und Mentalität, Stoff, sehr viel Stoff. Ich habe den Film innerhalb kürzester Zeit dreimal gesehen, und jedesmal neue Seiten, Aspekte, Gefühle, Katastrophen, Möglichkeiten entdeckt. „Magnolia“ gehört zu der Sorte Film, die mich nicht los lassen, und das ist gut so, das beste, was ein Film leisten kann.

Anhang:
Exodus 8,2:
„Der Herr sprach zu Mose: Gehe hinein zu Pharao und sprich zu ihm: So sagt der Herr: Lass mein Volk, dass mir's diene. Wo du dich weigerst, siehe, so will ich all dein Gebiet mit Fröschen plagen, dass der Strom soll von Fröschen wimmeln; die sollen herauf kriechen und kommen in dein Haus, in deine Schlafkammer, auch in die Häuser deiner Knechte, unter dein Volk, in deine Backöfen und in deine Teige; und die Frösche sollen auf dich und auf dein Volk und auf alle deine Knechte kriechen. Und der Herr sprach zu Mose: Sage Aaron: Recke deine Hand aus mit deinem Stabe über die Bäche und Ströme und Seen und lass Frösche über Ägyptenland kommen. Und Aaron reckte seine Hand über die Wasser in Ägypten, und es kamen Frösche herauf, dass Ägyptenland bedeckt ward. Da taten die Zauberer auch also mit ihrem Beschwören und ließen Frösche über Ägyptenland kommen. Da forderte Pharao Mose und Aaron und sprach: Bittet den Herrn für mich, dass er die Frösche von mir und von meinem Volk nehme, so will ich das Volk lassen, dass es dem Herrn opfere. Mose sprach: Habe du die Ehre vor mir und bestimme mir, wann ich für dich, für deine Knechte und für dein Volk bitten soll, dass die Frösche von dir und von deinem Haus vertrieben werden und allein im Strom bleiben. Er sprach: Morgen. Er sprach: Wie du gesagt hast. Auf dass du erfahrest, dass niemand ist wie der Herr, unser Gott, so sollen die Frösche von dir, von deinem Hause, von deinen Knechten und von deinem Volk genommen werden und allein in Strom bleiben. Also gingen Mose und Aaron von Pharao; und Mose schrie zu dem Herrn der Frösche halben, wie er Pharao hatte zugesagt. Und der Herr tat, wie Mose gesagt hatte; und die Frösche starben in den Häusern, in den Höfen und auf dem Felde. Und sie häuften sie zusammen, hier einen Haufen und da einen Haufen, und das Land stank davon. Da aber Pharao sah, dass er Luft gekriegt hatte, verhärtete er sein Herz und hörte sie nicht, wie denn der Herr geredet hatte. Und der Herr sprach zu Mose: Sage Aaron: Recke deinen Stab aus und schlage in den Staub auf der Erde, dass Stechmücken werden in ganz Ägyptenland. Sie taten also, und Aaron reckte seine Hand aus mit dem Stabe und schlug in den Staub auf der Erde. Und es wurden Mücken an den Menschen und an dem Vieh; aller Staub des Landes ward zu Mücken in ganz Ägyptenland. Die Zauberer taten auch also mit ihrem Beschwören, dass sie Mücken herausbrächten, aber sie konnten nicht. Und die Mücken waren sowohl an den Menschen als an Vieh. Da sprachen die Zauberer zu Pharao: Das ist Gottes Finger. Aber das Herz Pharaos ward verstockt, und er hörte sie nicht, wie denn der Herr gesagt hatte. Und der Herr sprach zu Mose: Mache dich morgen früh auf und tritt vor Pharao (siehe, er wird ans Wasser gehen) und sprich zu ihm: So sagt der Herr: Lass mein Volk, dass es mir diene; wo nicht, siehe, so will ich allerlei Ungeziefer lassen kommen über dich, deine Knechte, dein Volk und dein Haus, dass aller Ägypter Häuser und das Feld und was darauf ist, voll Ungeziefer werden sollen. Und ich will des Tages ein Besonderes tun mit dem Lande Gosen, da sich mein Volk aufhält, dass kein Ungeziefer da sei; auf dass du inne werdest, dass ich der Herr bin auf Erden allenthalben; und will eine Erlösung setzen zwischen meinem und deinem Volk; morgen soll das Zeichen geschehen. Und der Herr tat also, und es kam viel Ungeziefer in Pharaos Haus, in seiner Knechte Häuser und über ganz Ägyptenland; und das Land ward verderbt von dem Ungeziefer. Da forderte Pharao Mose und Aaron und sprach: Gehet hin, opfert eurem Gott hier im Lande. Mose sprach: Das taugt nicht, dass wir also tun; denn wir würden der Ägypter Gräuel opfern unserm Gott, dem Herrn; siehe, wenn wir der Ägypter Gräuel vor ihren Augen opferten, würden sie uns nicht steinigen? Drei Tagereisen wollen wir gehen in die Wüste und dem Herrn, unserm Gott, opfern, wie er uns gesagt hat. Pharao sprach: Ich will euch lassen, dass ihr dem Herrn, eurem Gott, opfert in der Wüste; allein, dass ihr nicht ferner zieht; und bittet für mich. Mose sprach: Siehe, wenn ich hinaus von dir komme, so will ich den Herrn bitten, dass dies Ungeziefer von Pharao und seinen Knechten und seinem Volk genommen werde morgen des Tages; allein täusche mich nicht mehr, dass du das Volk nicht lassest, dem Herrn zu opfern. Und Mose ging hinaus von Pharao und bat den Herrn. Und der Herr tat, wie Mose gesagt hatte, und schaffte das Ungeziefer weg von Pharao, von seinen Knechten und von seinem Volk, dass nicht eines übrigblieb. Aber Pharao verhärtete sein Herz auch dieses Mal und ließ das Volk nicht.“



Punch-Drunk Love
(Punch-Drunk Love)
USA 2002, 95 Minuten
Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson
Musik: Jon Brion
Director of Photography: Robert Elswit
Montage: Leslie Jones
Produktionsdesign: Bill Arnold, Sie Chan

Darsteller: Adam Sandler (Barry Egan), Emily Watson (Lena Leonard), Philip Seymor Hoffman (Dean Trumbell), Luis Guzmán (Lance), Mary Lynn Rajskub (Elizabeth), Ashley Clark (Telefon-Sex-Schwester), Robert Smigel (Walter, der Zahnarzt), Lisa Spector (Susan), Julie Hermelin (Anna), Hazel Mailloux (Rhonda), Nicole Boroda Gelbard (Nicole), Mia Weinberg (Gilda), David Stevens (David), Jim Smooth Stevens (Jim), Nathan Stevens (Nate), Mike D. Stevens (Mike D.), Rico Bueno (Rico), Salvador Curiel (Sal), Jorge Barahona (Jorge), Ernesto Quintero (Ernesto), Larry Ring (Schwager Steve), Kerry Gelbard (Schwager Richard)

He needs me and I need him

Benommen (Punch-Drunk) – diese Vokabel trifft nicht nur auf die Hauptfigur in Andersons („Magnolia“, 1999) „Punch Drunk Love” zu. Ich fühlte mich benommen von diesem Streifen, in dem Adam Sandler vielleicht zum ersten Mal – was seine spezifischen Outsider-Rollen betrifft – zum Kern seiner Figuren vorgestoßen ist. „Mr. Deeds“ z.B. war so ein typischer Sandler-Film, den ich eine deutlich sichtbare Spur als zu albern, zu unernst empfand – und zwar in bezug auf die Figur selbst, die Sandler systematisch aufbaut, ihre innere Logik aber selbst nicht durchhalten kann. Es fehlt der letzte Schliff.

Punch-Drunk – das bedeutet auch: an einem Boxersyndrom leidend, im übertragenen Sinne vielleicht: da leidet jemand an etwas, was Gewalt in ihm auslöst. Auch dies charakterisiert Andersons Film bzw. seine Hauptfigur.

Barry Egan (Adam Sandler) hat sieben Schwestern, und mehr oder weniger alle haben sich wohl immer um ihren einzigen Bruder „gekümmert“, sprich: ordentlich bevormundet. Barry hat ein Geschäft, in einer Lagerhalle, verkauft irgendwelchen Krempel im San Fernando Valley, unterstützt von ein paar Angestellten, unter ihnen Lance (Luis Guzmán). Barry neigt zu aggressiven Ausfällen, nutzt Fehler in der Werbeaktion einer Firma und sammelt deren Puddingbecher, Marke Healthy Choice, um Bonusmeilen für Flüge anzuhäufen, greift sich ein altes Harmonium, das an der Straße abgestellt wurde, und stellt es in sein Büro in der Lagerhalle – alles Dinge, die mehr, aber eher weniger Sinn und Verstand zu haben scheinen und lediglich von Barrys Kampf gegen die Windmühlenflügel eines Lebens zeugen, in dem sich der stets in einem blauen Anzug steckende moderne Don Quichotte nicht zurecht findet.

Warum Barry eine Telefonsexnummer anruft, bleibt ebenso fraglich wie viele andere seiner Handlungen. Die Dame am anderen Ende der Strippe (Ashley Clarke) gehört zum Stab des Geschäftemachers Trumbell (Philip Seymor Hoffman), einem, der keinen Spaß versteht. Eigentlich will Barry keinen Telefonsex, sondern nur reden, worüber auch immer. Barry sucht Kontakt. Trumbell dagegen will Geld, nicht nur für Telefonsex. Er spioniert seine Kunden aus, um sie zu erpressen. Als Barry gegen diese Machenschaften heftig protestiert, schickt ihm Trumbell – nach einem äußerst aggressiven Telefongespräch zwischen ihm und Barry – ein paar nette Jungs, die ihm mit Hilfe von Gewalt den richtigen Weg weisen sollen.

In dieser Situation tritt in Barrys Leben eine Frau. Eine seiner Schwestern will ihn mit Lena Leonard (Emily Watson) verkuppeln. Und Lena findet Gefallen an dem verrückten Kerl, wie der an ihr. Da kommen Barry die Flug-Bonusmeilen gerade recht. Denn Lena will nach Hawaii, Barry zu ihr und außerdem Porno-Trumbell entkommen ...

Anderson taucht seine Geschichte und seine Hauptfigur Barry in einen prall gefüllten Krug mit Absurditäten, skurrilen Situationen, fast surrealen Bilderwelten, begleitet von einem romantischen, sentimentalen Song „He needs me“ (von Popeyes Olivia Öl). Barry ist kein gebrochener Mann, aber angeknackst, fast nicht fähig, mit anderen in einen „normalen“ Kontakt zu treten. Das ändert sich, langsam, immer wieder unterbrochen von Barrys aggressiven Ausfällen, etwa wenn er die Toilette in einem Restaurant, in das er mit Lena gegangen ist, zertrümmert. Barrys Handlungen sind „anti-real“: Ein fantastisch inszenierter Autounfall zu Beginn des Films, der wie ein göttlicher Blitz einschlägt, bringt Barry ein Harmonium, das er sich nach einigem Überlegen aneignet. Niemand versteht das, auch nicht, warum Barry ganze Lagen Puddingbecher im Lager hortet.

Barry wehrt sich. Seine aggressiven Ausfälle entfachen allerdings eine merkwürdige Sympathie mit einem Mann, der mit den Anforderungen, die man an ihn stellt, nicht zurecht kommt, warum, erklärt Anderson – Gott sei Dank – nicht. Es spielt keine Rolle. Sandler spielt, was er immer spielt, aber in einer gewissen Weise perfekt. Barry sucht. Er sucht einen Weg, nicht nur einen Ausweg aus seinem Desaster. Als er Lena besuchen will, irrt er durch die Gänge des Hauses, in dem sich ihre Wohnung befindet, jeder Flur und jede Tür sehen gleich aus. Aber er findet sie. Auf Hawaii lieben sich Barry und Lena, und noch in ihrer Intimität gerät Barrys Leidenschaft für diese Frau (phantastisch anmutig spielend: Emily Watson) in den Bereich der Gewalt. Er erklärt ihr, er liebe sie derart, dass er ihr Gesicht mit einem Vorschlaghammer zertrümmern könne. Da ist ein Rest von Gewalt, aber ein ungefährlicher, weil Barry dies nie tun würde. Seine Äußerung – auch Lena weiß dies – ist lediglich der verbale Rest von Gewalt, die Barry gerade hinter sich lässt, sozusagen Makulatur. Er möchte Lena fressen, so liebt er sie. In einer anderen Szene begegnet Barry Trumbell; es riecht nach exzessiver Gewalt. Aber Barry kann schon hier auf Aggression verzichten, weil er liebt, lieben kann.

Als Lena und Barry sich auf Hawaii treffen, fallen sich beide in die Arme, untermalt von entsprechend romantischer Musik, eine Szene, die der romantischen Komödie nahe kommt, sie aber nie erreicht, nur sporadisch. Ein Hauch von Romantik umweht den Film. Zwei offenbar völlig unterschiedliche Charaktere, die nichts, fast nichts voneinander wissen, Lena höchstens vom Hörensagen über Barrys Schwester, ihre Freundin, spüren einander, fühlen etwas füreinander, das stärker ist als jede Gewalt.

In gewisser Weise betritt Anderson mit „Punch-Drunk Love“ filmisches Neuland. Er streift Genre – romantische Komödie, Drama, Sex & Crime –, aber der Film ist genremäßig kaum einzuordnen. Barry steht absolut im Mittelpunkt; der Film ist auch eine psychologische Studie über diesen Menschen, aber er ist mehr, versucht auf unkonventionelle Weise, einem Mann nachzuspüren, ohne ihn bloßzustellen oder zu ergründen, beziehungsweise: Er ergründet ihn auf ungewohnte Art. Barry hat unsere Sympathie, und Sandler kommt in diesem Film zum Höhepunkt dessen, was Sandler schon immer spielte: einen Outsider, der sich versucht, seiner Qualen zu entledigen, zu sich zu finden, aber eben auf Sandler-Art.


 

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