Auf Wiedersehen Kinder
(Au revoir, les enfants)
Frankreich 1987, 104 Minuten
Regie: Louis Malle

Drehbuch: Louis Malle
Musik: Camille Saint-Saëns, Franz Schubert
Director of Photography: Renato Berta
Montage: Emmanuelle Castro
Produktionsdesign: Willy Holt

Darsteller: Gaspard Manesse (Julien Quentin), Raphael Fejtö (Jean Bonnet / Jean Kippeinstein), Francine Racette (Mad. Quentin), Stanislas Carré de Malberg (François Quentin), Philippe Morier-Genoud (Pater Jean), François Berléand (Pater Michel), François Négret (Joseph), Peter Fitz (Müller, Gestapo)

Wohin von hier ?

„The longer I live, the less
I trust ideas, the more I
trust emotions.“
(Louis Malle)

Da ist Frieden, und doch Krieg, Zivilisation, und doch Abschlachten, Unbeschwertheit, und doch Angst. Die Maschine läuft, gut geschmiert, scheinbar unaufhaltbar. In den Augen der Jungen sieht man nicht viel anderes als bei allen Jungen in diesem Alter – damals wie heute. Sie sind wild und ungestüm, sehen sich heimlich Nacktfotos an, lesen die erotischen Geschichten aus „1001 Nacht“. Sie kloppen sich, meckern über das schlechte Essen, piesacken und ärgern sich. Auf Stelzen spielen sie „Abendland gegen Morgenland“. Sie bilden kleine Cliquen, sie bilden Sympathien und Apathie heraus, ohne aber feindselig zu werden. Kurz, sie wachsen heran. Sie pubertieren, schauen der hübschen jungen Klavierlehrerin auf die Beine, als die vom Fahrrad steigt, während sie selbst Liegestütze zu absolvieren haben. Ein Reich der Normalität, der Freude, des gelegentlichen Schmerzes, aber doch vor allem einer ausgelebten Jugend. Nicht einmal die vermeintliche Enge eines katholischen Klosters vermag daran etwas zu ändern.

Louis Malles stark autobiografisch geprägter Film über das Leben von Jungens aus zumeist reichen französischen Familien in einem Kloster-Internat zu Beginn der 40er Jahre zeichnet in bestechenden Bildern dieses Leben zusammen mit dem Klosterleiter Père Jean (Philippe Morier-Genoud), Père Michel (François Berléand) und den anderen Patern und Lehrern, die sich redliche Mühe geben, den Jungens Mathematik und Griechisch beizubringen, sie in die Geheimnisse der Literatur einzuweihen oder sie durch Sport fit zu halten. Man macht Ausflüge, zeigt Filme mit Charles Chaplin – und vor allem legt Père Jean Wert darauf, dass die Kinder all das mit den anderen teilen, was sie von zu Hause geschickt bekommen, vor allem Lebensmittel, denn davon gibt es im Internat zu wenig.

Und zugleich ist doch von Anfang an zu spüren, wie verletzlich dieses Stück Normalität, Zivilisation und Lebensfreude ist. Es ist Krieg, die Deutschen haben Frankreich besetzt. Überall tummeln sich Kollaborateure und eine französische Miliz, die den fremden Schlächtern aufs Wort gehorcht.

Malle gelingt es, diese trügerische Atmosphäre in den Bildern des Films von Beginn an zu erzeugen. Auch Julien Quentin (Gaspard Manesse), der lieber nach Hause bei seiner Mutter (Francine Racette) wäre, kehrt nach den Weihnachtsferien in das Internat zurück, zusammen mit seinem älteren Bruder François Quentin (Stanislas Carré de Malberg).

Die Jungen treiben einen regen Handel mit Dingen, die sie von ihren Eltern geschickt bekommen, vor allem Lebensmittel, die sie bei dem Küchenjungen Joseph (François Quentin) gegen anderes eintauschen, Zigaretten, Nacktfotos usw. Joseph verscheuert die Marmelade, Wurst und anderes auf dem Schwarzmarkt.

Eines Tages kommt ein neuer Schüler in das Internat – Jean Bonnet (Raphael Fejtö). Und zu Anfang mag Julien den Neuen überhaupt nicht, geht ihm aus dem Weg. Jean kann besser Mathematik und er spielt besser Klavier als Julien. Mit der Zeit allerdings freunden sich die beiden Jungen an, ohne jemals ein Wort darüber gesprochen zu haben. Ihre Freundschaft entwickelt sich – sprachlos und fast unbeschwert.

Als französische Miliz des Pétain-Regimes im Kloster auftaucht, versteckt einer der Pater Jean. Julien bekommt dies mit und durchsucht den Spind Jeans. Und er entdeckt dabei, dass Jean in Wirklichkeit nicht Bonnet sondern Kippeinstein heißt und Jude ist. Und er begreift, dass Père Jean und die anderen Klosterbrüder Jean Bonnet vor dem Zugriff der Nazis und Miliz verstecken ...

Malle zeigt uns – und das vor allem in Bildern, weniger in Worten oder Dialogen – die diametral entgegengesetzten Verhaltensweisen jener Zeit – die Chargen der Anhänger des von den antifaschistischen Franzosen „Putain“ genannten Marschall Pétain hier, eine sich fast zärtlich, aber konsequent entwickelnde Freundschaft zwischen Julien und Jean dort. Er zeigt uns Pater, die alles dafür geben – in aller Ruhe, aber ebenso konsequent –, Jean und zwei anderen jüdische Schüler vor dem Zugriff der Schlächter zu beschützen.

Jean ist zunächst wütend, als Julien ihn auf seine Herkunft anspricht. Doch schon bald lesen sie gemeinsam „1001 Nacht“, und verbringen viel Zeit miteinander. Die Gefühle, die beide miteinander verbindet, kommen dabei so selbstverständlich und tief empfunden über die Leinwand, dass Malle ein kaum größerer Gegensatz zwischen dieser Freundschaft und der stets spürbaren Gefahr gelingen konnte.

Es scheint, als könne niemand die beiden wieder auseinander bringen. Jean, der ständig in Angst lebt, aufgespürt zu werden, dessen Vater im Gefängnis sitzt oder vielleicht schon im KZ, genießt die Freundschaft zu Julien umso mehr, als für Julien trotz seines Wissens um Jeans Herkunft dies zwischen beiden überhaupt keine Rolle spielt – außer in den Situationen, in denen es gefährlich wird und Julien immer bereit zu sein scheint, Jean zu schützen – auch wenn er das letztlich nicht kann.

Dass die vermeintliche Sicherheit im Internat eine Illusion ist, Ausdruck einer trügerischen Hoffnung, will man nicht wahrhaben – und muss es doch. Die Herstellung einer menschlichen Zivilisation durch die Pater im Internat, hinter deren Arbeit alle Zweifel und alle Kritik an der Enge des Klosterlebens zurücksteht, wird durch einen primitiven Racheakt des Küchenjungen Joseph jäh verunmöglicht, nachdem er wegen seiner aufgeflogenen Schwarzmarktgeschäfte entlassen wird. Und es wird gerade in diesem Moment, in dem die Gestapo das Kloster schließt und alle jüdischen Schüler und Père Jean verhaftet, deutlich, auf welchem Gerüst verbrecherische Ideologien aufbauen: auf Angst, Neid und Rache.

In einer zentralen Szene – Père Jean hält vor den Eltern und Schülern eine Predigt gegen die Unterdrückung – wird deutlich, wie tief die damalige Gesellschaft ursächlich darin verwickelt war, dass Antisemitismus zur Staatsideologie werden konnte. Nach der Predigt verweigert Père Jean dem jungen Jean die Hostie. Sein Blick dabei lässt Bände sprechen. Aber sein Blick zeigt auch, dass ihm in diesem Moment bewusst zu werden scheint, dass der Katholizismus seinen Anteil am Aufkommen des Antisemitismus hatte.

Es ist dann dieser letzte Blick Juliens auf den weggeführten Jean, dieser letzte Moment des Sich-Sehens, Sich-in-die-Augen-Schauens, Sich-Spürens, der die ganze Katastrophe dieser Jahre in sich aufgesaugt zu haben scheint. Und wenn es auch Kinderaugen sind, so sind es Blicke des Verstehens, der Freundschaft – und dieses unermesslich schrecklichen Gefühls eines gewaltsamen Endes durch einen bis heute nicht erklärbaren und wohl verstandesmäßig auch künftig nie völlig aufklärbaren, oktroyierten Zusammenhangs, der das Leben nicht nur von Jean, sondern in gewisser Weise auch von Julien beendet: Für Jean und die anderen endet das Leben in Auschwitz und für Père Jean in Mauthausen. Für Julien endet ein Teil seines Lebens mit deren gewaltsamen Weggang – als ob ein Stück seiner Seele aus ihm herausgebrochen worden wäre.

Louis Malle gehörte zu den wenigen Filmemachern, die solche Zusammenhänge in Bildern umsetzen konnten, die ihre Kraft nicht aus einer oberflächlichen Theatralisierung oder übertriebener Effekthascherei, sondern aus einer fast schlichten, aber eben dennoch tiefschöpfenden und schöpferischen Dichte der visuellen Erzählung gewinnen.

© Bilder: MK2 Productions.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.