Auszeit
(L’Emploi du temps)
Frankreich 2001, 132 Minuten
Regie: Laurent Cantet

Drehbuch: Laurant Cantet, Robin Campillo
Musik: Jocelyn Pook
Director of Photography: Pierre Milon
Montage: Robin Campillo
Produktionsdesign: Romain Denis

Darsteller: Aurélien Recoing (Vincent), Karin Viard (Muriel), Serge Livrozet (Jean-Michel), Jean-Pierre Mangeot (Vater), Monique Mangeot (Mutter), Nicolas Kalsch (Julien), Marie Cantet (Alice), Félix Cantet (Félix), Olivier Lejoubioux (Stan), Maxime Sassier (Nono), Elisabeth Joinet (Jeanne), Nigel Palmer (Jaffrey), Christophe Charles (Fred), Didier Perez (Philippe)

Rückkehr

Aus. Zeit. Der Job ist weg. Vincent (Aurélien Recoing) war Consultant. Jetzt ist er es nur noch in der Erinnerung – in der Erinnerung an eine Arbeit, die er eh nicht mochte, an der er, wie er sagte, nur eines liebte: die Autofahrten zu Kunden, die „Rennen“ mit der Eisenbahn nebenan, das Fahren, dieses schier endlose, in die Länge getriebene Fahren auf den Straßen, währenddessen er nicht denken musste. Das Bei-Sich-Selbst-Sein, erzählt er später dem Ganoven Jean-Michel (Serge Livrozet), das war das einzige, was er als Consultant schätzte (eher als temporärer Nicht-Consultant). Das Auto als Behausung für die eigenen Wünsche. Da fuhr er auch schon mal an einer Ausfahrt vorbei, die ihn zum nächsten Kunden führen sollte.

Seiner Frau Muriel (Karin Viard), seinen Kindern, dem pubertierenden Sohn Julien (Nicolas Kalsch) und den beiden Nesthäkchen Alice und Félix (Marie Cantet, Félix Cantet), und seinen Freunden erzählt Vincent nichts von der Kündigung. Auch seinen Eltern (Jean-Pierre Mangeot, Monique Mangeot) nicht. Vincent schämt sich. Vincent hält die Fassade aufrecht und tut so, als wenn er noch einen Job hätte. Mehr, er wechselt sogar den Job, erzählt Muriel, er habe vor einem Monat selbst gekündigt, um einen besser bezahlten und interessanteren Job bei der UNO in Genf anzunehmen. Vincent konstruiert eine Fassade, vor (!) der er seine Scham und seine Müdigkeit verbergen kann. Er spielt, und in seinem Spiel ist er der einzige Schauspieler. Oder doch nicht? Sind die anderen nicht auch Mimen auf einer Bühne, die sich Konvention nennt?

Er luchst seinem Vater 200.000 Francs ab, die er angeblich für eine Wohnung in Genf benötigt. Er luchst seinen Freunden und Bekannten Geld ab, das er angeblich äußerst gewinnbringend anlegen könne. Auch sein alter, nicht gerade begüterter Freund Nono (Maxime Sassier) und dessen Frau Jeanne (Elisabeth Joinet) wollen mit 12.000 Francs dabei sein. Wieder Scham. Vincent will dessen Geld nicht. Nonos nicht. Und er nimmt es nur, um die Fassade aufrechtzuerhalten.

Vincent fährt übers Land, in die Schweiz, bastelt sich eine Tätigkeit bei der UNO im Rahmen der Kooperation mit „Non Government Organizations“ zurecht, telefoniert mehrmals täglich mit seiner Frau, um ihr mitzuteilen, was er gerade tut, dass es spät wird, dass er heute gar nicht mehr nach Hause kommen kann und so fort.

Das Angebot seines Freundes und langjährigen Arbeitskollegen Jaffrey (Nigel Palmer), einen lukrativen Job als Consultant bei einer anderen Firma anzunehmen, schlägt er aus. Er will, dass Jaffrey aus seinem Leben verschwindet, ihn in Ruhe lässt. Als Jean-Michel ihn anspricht, bröckelt die Fassade zum ersten Mal. Jean-Michel ist Realist. Wie wolle er jemals seinen Bekannten das viele Geld zurückzahlen? Vincent ist Jean-Michel sympathisch. Er bietet ihm an, bei seinen Geschäften mit in Osteuropa billig produzieren Uhren, Füllern, Hemden und ähnlichem Kram, die er in Frankreich gewinnbringend verkauft, mitzuwirken. Vincent schlägt einen wirtschaftskriminellen Weg ein, für kurze Zeit.

Seine Familie, die ihn kaum noch zu sehen bekommt, liebt Vincent, auch Julien, der rebelliert, der den Vater ablehnt. Vincent wird halb verrückt. Es zerreißt ihn fast zwischen der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Daseins zu Hause und seiner Schweinwelt. Aber es zerreißt ihn dann doch nicht, denn Vincent hat einen Traum, den er träumt und den er wahrmachen will. Eher einen negativen Traum, einen, bei dem er träumt, was er nicht will, aber nicht träumen kann, was er statt dessen will. Das ausgeliehene Geld, die Fassade, die er den anderen baut, die Arbeit bei Jean-Michel – all das erweist sich als Kehrseite seines bisherigen Lebens, nicht als Perspektive eines anderen Lebens, abseits seiner früheren Arbeit. Die Scham treibt ihm nicht die Röte ins Gesicht. Denn die Scham ist eine aufgesetzte, eine inhalierte, eine injizierte, eine, von der Vincent vielleicht gar nicht einmal merkt, dass sie mit den stickigen Konventionen einer „Arbeitswelt“ zusammenhängt und aus ihr fließt, die Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit mit einem nicht schlecht bezahlten Job zum Makel, zum Stigma werden lässt. Es ist Vincents Vater, der ihm dies immer wieder verständlich machen will, weil der selbst die Regeln dieses konventionellen Daseins internalisiert hat.

Man kann niemandem wirklich einen Vorwurf machen, Vincent nicht, seinem Vater nicht, seiner Frau nicht ... Sie alle sind bemüht, sie alle mögen sich, achten sich, lieben sich. Nur, die Geborgenheit, in der sie aufwachsen, ist eingebettet in Regeln, die nicht mehr hinterfragt werden.

Vincent hängt zwischen den Konventionen und seinen Träumen, die den Rahmen der Konvention nicht sprengen können. Nein, niemand ist mit ihm böse, seine Frau nicht, seine Kinder nicht, selbst der pubertäre Konflikt mit Julien ist eine konventionell vorübergehende Angelegenheit. Und auch Vincents Vater schlägt nicht die Hände über dem Kopf zusammen, als die Fassade zusammenbricht. Nein, die Rückkehr des verlorenen Sohnes kulminiert in seiner Rückführung zu die offiziellen Seiten der Konvention: Der Vater besorgt ihm einen besseren Job, als er ihn früher hatte. Nur die Augen Vincents beim Vorstellungsgespräch sprechen Bände. Da sieht man in die Augen eines Mannes, der kapituliert hat, der kapitulieren musste, bedingungslos.

„Auszeit“ ist weniger (nur) ein Film über die Folgen der Arbeitslosigkeit als eine fein sezierende Studie über die Normalität und ihre Brüche. Die Krise veranlasst das Unterbewusstsein, das Spiel für einige Zeit zu unterbrechen. Vincent wird erst spät bewusst, dass dies eine Unterbrechung und kein Neuanfang ist. Er hätte ja auch weggehen können, sagt Vincent irgendwann zu seiner Frau. Vincent ist geblieben. Der Konvention fehlt die Kraft, über ihren eigenen Tellerrand zu schauen. Vincent fehlt die Kraft, sich seiner Frau und seinem Vater zu offenbaren. Schwäche zu zeigen, empfindet er, ist nicht erlaubt. Vincent ist ein Rebell. Doch seine Rebellion bewegt sich im Rahmen der Konvention. Alles, was er tut, bezieht sich darauf, nicht auf anderes. Wie auch? Wie sollte er anders?

Aurélien Recoing leistet überzeugende Schwerstarbeit als Vincent, begleitet von Schauspielern, die sich nahtlos in das Spiel einfügen. Seine visuelle Kraft bezieht der Film aus zumeist in winterlichen Farben gehaltenen Bildern, die der Geschichte eine angemessene Atmosphäre verleihen, ohne aufgesetzt oder störend zu wirken  – alles in allem eine beeindruckende Studie Laurent Cantets („Ressources humaines“, 1999).