Böse Zellen
Österreich, Deutschland, Schweiz 2003, 120 Minuten
Regie: Barbara Albert

Drehbuch: Barbara Albert
Director of Photography: Martin Gschlacht
Montage: Monika Willi
Produktionsdesign: Katharina Wöppermann

Darsteller: Kathrin Resetarits (Manu), Ursula Strauss (Andrea), Georg Friedrich (Andreas), Marion Mitterhammer (Gerlinde), Martin Brambach (Reini), Rupert L. Lehofer (Lukas), Bellinda Akwa-Asare (Sandra), Gabriela Schmoll (Belinda), Désirée Ourada (Patricia), Dominik Hartel (Kai), Nicole Skala (Gabi), Deborah Ten Brink (Yvonne)

Wie kann man zusammen sein?

"Ich glaub, der Mensch ist so
gemacht, dass er den andern
Menschen braucht, doch ...
hat er nie gelernt, wie man
zusammen ist."
(Petra von Kant in
Fassbinders „Die bitteren
Tränen der Petra von Kant”, 1972)

Der berühmte Schmetterling, dessen Flügelschlag an einem Ort der Welt an einem anderen eine Katastrophe auslöst, mag für Barbara Alberts „Böse Zellen” den symbolträchtigen Ausgangspunkt der Geschichte gegeben haben. Die lapidare Behauptung, dass alles mit allem zusammenhängt, ebenso. Doch letztlich ist „Böse Zellen” ein Film, der ein soziales Netzwerk an einem Ort in Österreich fein aufdröselt, ein Film, der sich mit gescheiterten Beziehungen befasst und mit der Unfähigkeit, dem Unvermögen, gute Beziehungen aufzubauen.

Das mag für manchen zunächst einmal danach klingen, der Film liefere etwas ab, was man schon Dutzende Male gesehen habe. Aber dem ist keineswegs so. Barbara Albert, die vor allem durch ihren Film „Nordrand” – zu Recht – bekannt wurde, nimmt Bezug auf das oben wiedergegebene Zitat aus Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant” (1972). Und letzendlich befasst sich „Böse Zellen” – wenn auch auf ganz andere Weise – mit dem selben Themenkomplex wie Fassbinders Film bzw. viele seiner Filme.

Der Film entfaltet – ausgehend von einer Person – das komplexe soziale Netzwerk einer Stadt. Die junge Manu (Kathrin Resetarits) überlebt als einzige einen Flugzeugabsturz nach ihrem Urlaub in Brasilien. Sechs Jahre später – Manu ist inzwischen mit Andreas (Georg Friedrich) verheiratet, der ein Kino managt, und hat eine kleine Tochter namens Yvonne (Deborah Ten Brink) – fährt sie mit ihrer besten Freundin Andrea (Ursula Strauss), die Kindergärtnerin in dem Hort ist, in den Yvonne geht, in eine Diskothek. Während Andrea wegen eines Mannes dort bleibt, fährt Manu allein nachts zurück – und wird getötet, als ein ihr entgegenkommendes Auto in ihren Wagen hinein rast. Der Fahrer des Wagens, der junge Kai (Dominik Hartel), bleibt unverletzt, aber seine Freundin Gabi (Nicole Skala) ist querschnittsgelähmt und will Kai, dem sie die Schuld an dem Unfall gibt, nicht mehr sehen.

Yvonne und Manus Schwester Gerlinde (Marion Mitterhammer) glauben nicht, dass Manu endgültig verschwunden ist. Sie lebe in der Unendlichkeit weiter. Gerlinde ist eine Frau, die sich außerhalb aller Regeln zu stellen scheint. Sie rebelliert innerlich gegen die Konsumgesellschaft, lebt bei einem wesentlichen älteren beinamputierten Mann. Weil sie bei ihm wohnen darf, darf er regelmäßig mit ihr schlafen.

Manus Bruder Lukas (Rupert L. Lehofer) ist Lehrer und fasziniert von Chaostheorie, schwarzen Löchern und anderen physikalischen Theorien. In einer Parfümerie stößt er auf die Verkäuferin Sandra (Bellinda Akwa-Asare), zu der er sich hingezogen fühlt, ohne dass er in der Lage wäre, ihr das zu sagen. Sandra lebt bei ihrer Mutter Belinda (Gabriela Schmoll) und geht zur Therapie. Sie nimmt an einer Familienaufstellung teil, weil sie den Verlust ihres aus Afrika stammenden Vaters verarbeiten will. Doch das hat nur mäßigen Erfolg. Ihre Mutter vertreibt sich die Zeit mit Rubbellosen, Schlankheitskuren und billigen TV-Sendungen. Sie ist verliebt in einen Polizisten, dessen Dienststelle direkt gegenüber von ihrer Wohnung liegt. Als sie ihn eines Tages anspricht, weist der sie deutlich zurück, woraufhin Belinda sich vor einen Zug wirft. Sie überlebt, verliert aber ein Bein bei diesem Selbstmordversuch.

Währenddessen ist Kai verzweifelt, weil Gabi ihm nicht verzeihen kann und will. Er nimmt mit der von anderen gemiedenen Mitschülerin Patricia (Désirée Ourada) Kontakt auf, die ihre Eltern durch Selbstmord verloren hat, an Übersinnliches glaubt und Séancen veranstaltet und sich nur dadurch einen gewissen Respekt vor ihren Mitschülern verschaffen kann.

Und Andrea? Sie verliebt sich in Andreas, und auch Andreas scheint Interesse an ihr zu haben. Doch die Trauer um Manu, sagt er, zwinge ihn dazu, vorerst eine Pause in beider Beziehung einzulegen. Als Andrea daraufhin mit seinem Bruder Reini (Martin Brambach) schläft und wenig später schwanger wird, ohne zu wissen, von welchem der beiden Männer das Kind gezeugt wurde, trennt sich Andreas von ihr.

Ganz am Schluss treffen sich alle wieder, als das neue Einkaufszentrum eröffnet wird.

Indem Barbara Albert auf diese Weise die Beziehungen und Bindungen nach und nach zu einem komplexen sozialen Netz entfaltet, entsteht ein dichtes Bild einer Gemeinschaft, in der fast alle diese Bindungen letztendlich scheitern. Dabei wirkt der Film anfangs chaotisch inszeniert. Aber dieser Eindruck täuscht. Albert zieht „nur” die Fäden, die notwendig sind, um dieses Bild zu einem Ganzen zu weben. Dabei kontrastiert sie diese Beziehungen – innerhalb der vier Jahreszeiten quasi als Kapitel – zum einen mit dem Aufbau des Kinos durch Andreas und der Errichtung des Konsumtempels, zum anderen mit der immer im Raum stehenden geisterhaften Anwesenheit der toten Manu, von der ihre Tochter glaubt, sie lebe in der Unendlichkeit weiter, und mit den Totenbeschwörungen Patricias.

Betrachtet man die einzelnen Beziehungen der Akteure, so bemerkt man die Unfähigkeit, diese zu lebendigen Beziehungen werden zu lassen. Fast alle Personen sind gefangen, zum einen in ihren aus der Vergangenheit herrührenden Problemen – wie Patricia, deren Totenbeschwörungen mit dem Selbstmord ihrer Eltern zusammenhängen, oder wie Sandra, die keine Möglichkeit findet, die Leerstelle, die der Tod ihres Vaters geschaffen hat, zu füllen. Andere sind durch Schuldgefühle oder Schuldvorwürfe gelähmt – wie Gabi, die Kai auch nach langer Zeit nicht verzeihen kann, oder Andrea, die wegen ihres „Fehltritts” mit Reini von Andreas zurückgewiesen wird.

„Böse Zellen” ist allerdings kein moralisierender Film, er psychologisiert nicht, im Gegenteil. Barbara Albert dokumentiert vor allem. Sie zeigt ihre Figuren, aber sie beurteilt sie nicht. Das dichte Bild, das dabei entsteht, lässt deutlich werden, wie wenig die Akteure in einer von Konsum und Geld, medialer Überformung und Fremdbestimmung gezeichneten Welt gelernt haben, miteinander in einer Weise zu kommunizieren, die es ihnen ermöglichen würde, von Zuneigung geprägte Beziehungen miteinander einzugehen. An Andrea lässt sich dies im Film besonders gut sehen. Sie, die Andreas wirklich liebt und in ihrer Situation nichts weniger nötig hätte als bedingungslose Zuwendung, wird barsch zurückgewiesen. Als sie dann doch mit Andreas und Yvonne eine neue Kleinfamilie bildet, verbleibt beider Beziehung sozusagen in einem formalen Gestrüpp hängen, d.h. ohne wirkliche innere Bindung hier, subjektives Eigenhaben dort. Nur die Erinnerung an Manu „rettet” sie vor dem Selbstmord in einer eisigen Gegend.

Auch Lukas ist so ein Fall von gebrochener Subjektivität. Er ist unfähig, Sandra seine Zuneigung zu zeigen. Er lebt in seiner Welt der Chaostheorie, einer Ersatzwelt wie Belindas Konsumwelt.

„Böse Zellen” ist jedoch keine dieser Tragödien um der Tragik willen. Am Ende finden sich Kai und Patricia, ein Funken Hoffnung in diesem Gestrüpp von Unfertigem, Halbem und Unausgegorenem. Und Yvonne, die kleine Yvonne, sitzt bei strömendem Regen an einer Pfütze und beobachtet – als sei es ein Rückblick auf die Geschichte –, wie die Tropfen Strukturen bilden, wieder zerstören und neue bilden. Was wird das Leben für sie, die immer alles beobachtet hat, was um sie herum geschah, von der man nicht weiß, was sie in ihrem Herzen und ihrem Kopf daraus „gemacht” hat, was wird das Leben für sie bringen: Katastrophen? Unfertiges? Glück? Gelungenes? Der Anfang für Yvonne – und hier spätestens löst sich der Film von dem scheinbar Schicksalhaften – ist zugleich die Möglichkeit, über etwas hinauszugehen, über sich selbst und über die nur scheinbar völlige Abhängigkeit von einer Welt, die uns etwas aufzwingen will, was als quasi naturhaft verkauft wird.

Und in dieser Hinsicht erscheint das Unvermögen der Akteure, das Nicht-Gelernte, fast als Strukturelement einer Welt, die auf alles „Wert” legt – nur nicht auf gelungene Beziehungen in jeder Hinsicht. Wenn Erich Fromm einmal formulierte: „Liebst du ihn (sie), weil du ihn (sie) brauchst, oder brauchst du ihn (sie), weil du ihn (sie) liebst?”, so bekommt dieser Satz aus einer psychologischen Theorie und Praxis eine über den einzelnen hinausgehende Bedeutung in einer Welt, in der das „Brauchen” Priorität beansprucht und Liebe zu einer Art Funktion des Gebrauchens verkommt. Das Übernatürliche bekommt hier eine Art Sinn, der für die einzelnen Akteure notwendig wird, um samt ihrer Subjektivität nicht unterzugehen. Hier liegt der besondere Wert des Films von Barbara Albert.

© Bilder: Ventura Film