Tagebuch einer Kammerzofe (1964)
Belle de Jour (1967)





Tagebuch einer Kammerzofe
(Le Journal d’une femme de chambre)
Frankreich, Italien 1964, 101 Minuten (DVD: 95 Minuten)
Regie: Luis Buñuel

Drehbuch: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, nach einem Roman von Octave Mirbeau
Director of Photography: Roger Fellous
Montage: Luis Buñuel, Louisette Hautecoeur
Produktionsdesign: Georges Wakhévitch

Darsteller: Jeanne Moreau (Céléstine), Georges Géret (Joseph), Daniel Ivernel (Captain Mauger), Françoise Lugagne (Madame Monteil), Muni (Marianne), Jean Ozenne (Monsieur Rabour), Michel Piccoli (Monsieur Monteil), Gilberte Géniat (Rose), Bernard Musson (Der Küster), Dominique Sauvage (Claire), Jean-Claude Carrière (Priester), Claude Jaeger (Richter)

Todessehnsüchte

Die visuelle Verschlüsselung sowie die Mischung aus realen und surrealen Elementen spielt bei Luis Buñuels Filmen zumeist eine große Rolle. In dem 1964 in der französischen Provinz gedrehten Film „Le Journal d’une femme de chambre” schien Buñuel darauf zu verzichten. Fast alles liegt offen wie eine klaffende Wunde. Charaktere wie Handlung sind so durchsichtig wie Glas, und doch, könnte man sagen, sind sie eher Repräsentanten, Charaktermasken ihrer Zeit, Zeichen für eine Gesellschaft, in der sich alle bewusst oder nicht auf eine Zeichen-Sprache, auf ein „gezeichnetes” Verhalten festgelegt haben, dem sie gar nicht entrinnen wollen. Buñuel verlegte die im Roman von Mirbeau im 19. Jahrhundert spielende Handlung in die Zeit Ende der 20er Jahre.

Céléstine (Jeanne Moreau) kommt aus Paris in ein Provinznest, um dort die Stelle einer Kammerzofe bei den Monteils anzunehmen. Der mürrische und wortkarge Angestellte der Monteils, Joseph (Georges Géret), bringt sie mit dem Pferdegespann zu Madame Monteil (Françoise Lugagne), die Céléstine in ihre Arbeit einweist. Madame Monteil ist eine jener standesbewussten, in Hierarchiefragen durch und durch „bewanderten” Frauen, die Céléstine zu jeder Zeit spüren lässt, wie unverrückbar diese Hierarchie ist. Ihr Mann vertreibt sich die Zeit mit Jagen: entweder ist er hinter Frauen her oder hinter Wild. Schnell begreift Céléstine, in welche Gesellschaft sie geraten ist. Der Vater von Madame Monteil, Monsieur Rabour (Jean Ozenne), bittet sie, ihr abends vorzulesen, aber in Wirklichkeit geht es ihm um etwas anderes. Rabour hat eine Sammlung von Frauenschuhen in seinem Zimmer – er ist Schuhfetischist. Céléstine soll diese Schuhe anziehen und vor ihm auf und ab gehen.

Der Nachbar der Monteils, Kapitän Mauger (Daniel Ivernel), der in ständiger Feindschaft zu den Monteils mit der Angestellten Rose (Gilberte Géniat) auf einem Nachbargrundstück lebt und ständig Müll über die Mauer wirft, um Monteil zu provozieren, ist ein alter militärischer Haudegen und Antisemit – wie Joseph im übrigen auch, der mit dem Küster (Bernard Musson) antisemitische und antibolschewistische Parolen schwingt und Aktionen vorbereiten will.

Während sich Madame Monteil um den wertvollen Plunder in ihrem Haus sorgt, seltsame chemische Experimente durchführt und ihr Herz dem örtlichen Priester (gespielt von Drehbuchautor Jean-Claude Carrière) ausschüttet, jagen Joseph, Monsieur Monteil und Nachbar Mauger Céléstine hinterher. Doch die lässt alle abblitzen. Sie kündigt die Stellung, nachdem man Rabour inmitten seiner Schuhe auf dem Bett tot aufgefunden hat. Als kurz vor ihrer Abfahrt allerdings ein Mädchen, Claire (Dominique Sauvage), das Céléstine eine Nacht bei ihr schlafen hat lassen, im Wald vergewaltigt und ermordet aufgefunden wird, entschließt sich die Zofe zu bleiben. Sie gibt dem Drängen von Joseph nach, der sie angeblich heiraten will. Die Ehe, sagt er, sei ihm so heilig, dass er vor der Hochzeit nicht mit ihr schlafen wolle, es sei denn, sie verspreche ihm, ihn auf jeden Fall zu heiraten. Céléstine hält Joseph jedoch für den Mörder an Claire – und wenig später zeigt sie ihn beim örtlichen Richter (Claude Jaeger) an ...

Charaktermasken, eben doch verschlüsselte Zeichen und eine Art Initialzündung, die durch den Mord an Claire ausgelöst wird, bestimmen die Handlung der Personen, setzen aber zugleich die Gesellschaft, die Buñuel hier zeichnet, als etwa Fixes, Unbewegliches, Starres. In gewisser Weise ist Céléstine zunächst lediglich – wie der Zuschauer – Betrachter dieses sozialen Geschehens, bevor sie dann, nach der Vergewaltigung und dem Mord, in dieses Geschehen gezielt eingreift. Rabour, der Schuhfetischist, ist noch die harmloseste Gestalt in einer maroden, aber nichtsdestotrotz funktionierenden und durchaus gefährlichen, großbürgerlichen Gesellschaft, in der selbst die Hausangestellten, allen voran Joseph, ihren Fetischen nachhängen und nachgehen. Céléstine ist eher amüsiert über den alten Herren.

Eben der Antisemitismus und Antibolschewismus Josephs, gepaart (auch über die Gestalt des Küsters, seines Gesinnungsgenossen) mit einer düsteren katholischen Mentalität, die die Religion akzeptiert, aber die Priester ablehnt, könnten als Pendant, und eben auch als Fetisch, gesehen werden zur „standesgemäßen” Arroganz und Lustfeindlichkeit der Hausherrin einerseits, der verlogenen, egozentrischen Lüsternheit und dem ins Nichts laufenden Jagdtrieb des Hausherrn Monteil. Diese Herrschaften tun im Grunde: nichts. Aber, wie Marx sagen würde: dies ist ein bestimmtes Nichts, eines dass vom gefährlichen Verfall einer Klasse handelt, der eben nicht zum sozialen Kollaps führt, sondern sich ständig reproduziert.

Es bleiben aber auch Geheimnisse, etwa die seltsamen chemischen Experimente der Madame Monteil oder vor allem das Verhalten Céléstines gegenüber Joseph, den sie einerseits für den Mörder Claires hält, dem sie andererseits aber erlaubt, ihr nachzusteigen, und dem sie vormacht, sein Heiratsversprechen zu akzeptieren. Ein Trick, um ihn geständig zu machen, sich an ihm zu rächen? Oder ein zumindest teilweises Nachgeben auf eigenen Wunsch? Buñuel lässt dies „offen”.

Die Vergewaltigung und den Mord allerdings führt und Buñuel sozusagen unverschlüsselt vor Augen. Claire streift durch den Wald, und die Bezüge zu „Rotkäppchen” sind in dieser Szene derart offensichtlich, dass sie wirken, als ob sie dem Publikum aufgezwungen werden sollen. Eine Schlüsselszene zu den Verschlüsselungen? Sicher. Denn „Le Journal d’une femme de chambre” zeigt den „diskreten Charme der Bourgeoisie” als fetischisierten Wahn, als Übertragung (durchaus auch in einem psychologischen Sinn) der Lebenslust auf allerlei Fetische: im Judenhass, in Kunstgegenständen, in chemische Experimenten, in der Jagd, Schuhe usw., einer Übertragung, bei der diese Lebensfreude zerstört wird.

Offen bleibt, ob Joseph die kleine Claire wirklich ermordet hat. Vieles spricht dafür. Er war mit seinem Gespann unterwegs im Wald, traf das Mädchen und sein Blick sprach Bände. Aber letztlich ist diese Frage gleichgültig, denn Täter hätte auch Monteil oder Mauger sein können. Claire (Rotkäppchen) steht für die Unschuld, die in einer maroden Gesellschaft hilflose Unschuld. Claire ist Zeichen und zugleich ein Moment für die einzige Verhaltensänderung, die der Film zeigt und mit der sich die Zofe scheinbar oder anscheinend auf einer höheren Ebene in diese Gesellschaft „einkauft”: Céléstine kehrt um, anstatt nach Paris zurückzukehren. Warum? Wegen Claire? Kaum, obwohl sie behauptet, entsetzt zu sein. Doch Entsetzt-Sein hat in diesem Film Buñuels keinen Platz. Sämtliche Beteiligten nehmen das schreckliche Ereignis als etwas Un-Schreckliches auf, als Alltag, als gewöhnlich, und fast alle beklatschen eine antisemitische Demonstration als ebenso alltäglich, gewöhnlich, bis Buñuel diese Demonstration durch rasche Schnittfolgen am Horizont einer Straße „vergehen” lässt.

Wird Céléstine, die das Verhalten der Männer Joseph, Monteil und Mauger kalt und berechnend für sich auszunutzen weiß (oder dies zumindest glaubt zu können) in den Kreis der „Besser-Gestellten” aufgenommen? Auch dies könnte eine Konsequenz sein. Und doch lässt Buñuel auch dies mit Zweifeln behaftet; denn zum Schluss wird Céléstine berichtet, Joseph würde wohl bald wieder aus der Haft entlassen, weil man nichts gegen ihn in der Hand habe.

So könnte man den Film im übrigen auch als schwarze Komödie sehen, als Abgesang auf eine kriegswillige und mordlüsterne Gesellschaft, die in den Abgrund des Todes stürzt, um sich aus den Trümmern Jahre später wieder zu regenerieren. Dann würde der Humor sozusagen aus der abstrusen, ja absurden Lächerlichkeit einer Gesellschaft resultieren, die permanent dem Tode nahe ist, ohne unterzugehen, weil die Überlebenden des Massakers sie und sich schon bald rekonstruieren und rekonstituieren.

Jeanne Moreau ist Céléstine, wie sie leibt und lebt. Michel Piccoli ist Monteil, wie er leibt und lebt.



Belle de jour – Schöne des Tages
(Belle de jour)
Frankreich, Italien 1967, 101 Minuten
Regie: Luis Buñuel

Drehbuch: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, nach dem Roman von Joseph Kessel
Director of Photography: Sacha Vierny
Montage: Louisette Hautcœur
Produktionsdesign: Robert Clavel

Darsteller: Catherine Deneuve (Séverine Serizy / Belle de Jour), Jean Sorel (Pierre Serizy), Michel Piccoli (Henri Husson), Geneviève Page (Madame Anais), Pierre Clémenti (Marcel), Françoise Fabian (Charlotte), Macha Méril (Renee), Maria Latour (Mathilde), Iska Khan (asiatischer Kunde), Marcel Charvey (Prof. Henri), Francisco Rabal (Hyppolite), Georges Marchal (Graf), Francis Blanche (Monsieur Adolphe)

Von Lust und sexueller Abstinenz

Ein Fixpunkt ist schwer auszumachen. An was soll man sich klammern? Wo ist Anfang, wo Ende, wo Traum, Realität und Phantasie? Luis Buñuel (1900-1983) war ein Meister der vom Surrealismus (v.a. Dali) beeinflussten Übertragung dessen, was wir Realität nennen, in ein Verwirrspiel zwischen diesen Ebenen des Traums, der Phantasie und der realen Abläufe.

Eine Kutsche fährt durch eine herbstliche Landschaft. Ein Paar lässt sich fahren. Die Kutsche hält irgendwo, die Kutscher zerren die Frau in den Wald und peitschen sie auf Geheiß des Mannes. Dann vergewaltigen sie die Frau. Traum?

Es handelt sich um Séverine Serizy (Catherine Deneuve) und ihren Mann, den Arzt Pierre (Jean Sorel). Phantasie, Realität, Traum korrespondieren – nein, nicht mit einem Doppelleben, sondern mit einer dreifachen Schichtung der Existenz der jungen, 23-jährigen, gut aussehenden, in bürgerlichen Verhältnissen lebenden Frau. Wunsch, Unzufriedenheit und Erinnerung sind ein weiteres magisches Dreieck im Leben Séverines – oder nur eine andere Formulierung ihrer Existenz.

Der Strang der Erzählung von „Belle de jour“ scheint einfach. Die junge Frau führt eine Ehe, liebt ihren Mann wie einen Freund. In ihren Phantasien jedoch gibt sie sich anderen Männern hin, devot und mit einer ordentlichen Portion Masochismus. Als sie von ihrer Freundin Renee (Macha Méril) hört, eine Bekannte verdinge sich stundenweise als Prostituierte, und nachdem ihr der abgeklärte Lebemann Henri Husson (Michel Piccoli), ein Bekannter ihres Mannes (den sie nicht mag), erzählt, er kenne solche Etablissements, und ihr die Adresse von Madame Anais (Geneviève Page) gibt, wagt sich Séverine in deren Haus. Im teuren Kostüm, adrett und unschuldig im Äußeren ihrer bürgerlichen Fassade, schwankt sie zwischen Angst und Neugier, schlechtem Gewissen gegenüber Pierre und dem Drang nach Verwirklichung ihrer geheimsten Träume. Sie bleibt, zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags ist sie nun ständig die Belle de jour. Sie legt ihren Namen ab, wie die anderen im Haus der Madame Anais, die schwarzhaarige Charlotte (Françoise Fabian) und die rothaarige Mathilde (Maria Latour) und nicht zuletzt Madame Anais selbst – alles falsche Namen.

Kühl und unnahbar begegnet sie Pierre, ebenso jedoch ihren Kunden. Séverine erklärt sich nur aus Séverine. Sie hat keine Leidenschaft, sie ist ihre eigene Leidenschaft. Sie trifft auf Monsieur Adolphe (Francis Blanche), den reichen Bonbonfabrikanten, einen dicklichen, kleinen Mann, der Frauen wie seine Ware abschätzt; auf einen asiatischen Kunden (Iska Khan), der ihr eine Schachtel zeigt, die für den Zuschauer ein Geheimnis birgt, etwas, was wir nicht zu Gesicht bekommen, für den Kunden jedoch offensichtlich geheime Wünsche symbolisiert; auf Professor Henri (Marcel Charvey), der sich im Etablissement als Diener verkleidet und seine masochistischen Wünsche mit der Peitsche erfüllt sehen will.

Belle de jour findet Gefallen an ihrem dreigeteilten Leben, das doch nur eines ist: Gegenüber Pierre erklärt sie, sie komme ihm endlich von Tag zu Tag näher, sie habe keine Angst mehr vor ihm und beider Beziehung. Bei Madame Anais erfüllt sie sich ihre Träume. In ihrer Phantasie lässt sie sich dafür bestrafen (wie in der anfangs des Films gezeigten Kutschfahrt): Pierre und Husson bewerfen sie, die an einen Pfahl auf einer Weide mit Stieren gefesselt ist, mit Schmutz und beschimpfen sie als Hure. In einem Restaurant lässt sie sich von einem Grafen (Georges Marchal) dafür engagieren, schwarz gekleidet die Leiche seiner verstorbenen Geliebten oder Frau in einem offenen Sarg zu spielen, um sich nach Abschluss des nekrophilen Spiels vom Diener des Grafen wie eine Hure hinauswerfen zu lassen.

Als Séverine den in Schwarz gekleideten Gangster Marcel (Pierre Clémenti) und seinen Kompagnon Hyppolite (Francisco Rabal) bei Madame Anais kennenlernt, sieht sie sich dessen Nachstellungen ausgesetzt. Séverine kündigt bei Madame Anais. Marcel will Belle de jour für sich, will ihre wahre Identität enthüllen, taucht bei ihr zu Hause auf und droht, Pierre alles über sie zu erzählen. Dann schießt Marcel auf Pierre, der fortan sein Leben gelähmt im Rollstuhl verbringen muss. Marcel wird auf der Flucht von einem Polizisten erschossen. Und Henri erzählt Pierre von Séverines Tätigkeit bei Madame Anais.

Als Séverine nach Henris Besuch zu Pierre ins Zimmer geht, nimmt der seine dunkle Brille ab, steht auf, geht zu Séverine, die, als sie die Geräusche trabender Pferde hört, auf den Balkon geht. Eine leere Kutsche fährt vorbei. Phantasie?

Anfang und Ende des Films schließen sich wie ein Zirkel. Aber wo ist Anfang und Ende, wo Phantasie, Realität und Traum? Buñuel lässt diese Frage offen, so, wie er die Frage, was sich in dem Kästchen befinde, das der asiatische Kunde Belle de jour zeigte, mit den Worten beantwortete: „Was sie wollen.“

Man könnte Séverines Ausflüge zu Madame Anais durchaus auch als Phantasie interpretieren. Für Buñuel scheint dies jedoch nicht das Entscheidende. Séverines Existenz in einer durch und durch großbürgerlichen Welt ist vor allem von der Schizophrenie dieser großbürgerlichen Welt selbst bestimmt. Das Auseinanderklaffen von Wunsch und Existenz, von Phantasie und Realität zwingt Séverine zum einen, ihr als Schuld empfundenes zweites Leben bei Madame Anais im Traum zu sühnen. In der bürgerlichen Existenz ist sie nicht bei sich selbst, und in der gelebten, aber eben auf die eigene Prostitution bezogenen Wunscherfüllung ist sie als Belle de jour nicht in ihrer offiziellen Existenz.

Marcel, der Gangster – gezeichnet durch eine riesige Narbe am Rücken und ein metallverstärktes Gebiss, dem schon einige Zähne fehlen (Zeugen seiner zwar illegalen, aber dennoch offiziellen Existenz) –, will die Fassade der Belle de jour herunterreißen – und kommt dabei um. Pierre, der nichts ahnende Ehemann, wird zum Opfer – und zwar zum für Séverine geradezu optimierten Opfer. Denn sein Gefesseltsein an den Rollstuhl verschafft Séverine einen Ehemann, der ihrer schizophrenen Lebensweise gerecht geworden ist. Sie muss nicht mehr mit ihm schlafen. Sie könnte sich wiederum als Belle de jour betätigen. Der Tod Marcels verschafft ihr zudem die Befreiung von einem Mann, der die von ihr gesetzten Grenzen überschreiten wollte. Der „Verrat“ Henri Hussons, der Pierre offenbart, was Séverine vor ihm verbergen wollte, entpuppt sich sozusagen als notwendige Korrektur, um die Verhältnisse ins Lot zu bringen. Die Kutsche, die Séverine in der Schlusssequenz vom Fenster aus sieht, ist leer. Eine Bestrafung durch Pierre ist nicht mehr notwendig. Sie ist die Siegerin in beider Beziehung; sie kann sich – wenn sie es für nötig empfindet – die Strafe selbst aussuchen. Ihr offizielles Verhältnis mit Pierre, ihre offizielle Existenz, wird damit nicht mehr belastet. Ihr Gewissen wird frei, weil sie sich ihre phantasierte Strafe selbst erwählen kann. Es ist wie in der Kirche: die Beichte nimmt einem alle Schuld.

Doch möglicherweise benötigt sie dies auch gar nicht mehr und sexuelle Abstinenz wird im Zentrum ihres künftigen Lebens stehen.

Die Kontinuität sowohl des schizophrenen Lebens Séverines als auch im übertragenen Sinn bürgerlichen Lebens überhaupt jedenfalls ist gewährleistet.

Trotz allem bleibt eine Unbestimmtheit in „Belle de jour“, ein vages, aber dennoch unheimliches Gefühl der Unsicherheit, der Haltlosigkeit, des Flüchtigen, denkt man etwa an einen anfangs des Films gezeigten Traum, eine Erinnerung möglicherweise, in der Séverine als kleines Mädchen von einem erwachsenen Mann (möglicherweise dem Vater) missbraucht wird. Diese phantasierte Erinnerung wird nur als Andeutung gezeigt, ist aber dennoch deutlich in ihrer Aussage.

Catherine Deneuve war diese Rolle einer gut situierten, kühlen und sicherlich auch skrupellosen Frau auf den Leib geschnitten. Das Hin und Her zwischen tief sitzender, aber eingesperrter Angst und kalt verfolgtem Begehren in einer räumlich abgespaltenen zweiten Welt, die nur Spiegelbild der ersten ist, bedarf eines Einfühlungsvermögens, das die Deneuve für solche Rollen prädestinierte. Jean Sorel als ihr Ehemann hatte es da wesentlich leichter mit seiner Rolle, und dennoch überzeugen er und vor allem Michel Piccoli in ihrem Spiel durchaus.


Weitere Filme:
“Dieses obskure Objekt der Begierde” (1977)
 

Tagebuch einer Kammerzofe-Plakat1
Tagebuch einer Kammerzofe-2
Tagebuch einer Kammerzofe-1
Belle de Jour-Plakat
Belle de Jour-Bestrafungsphantasien02
Belle de Jour-Catherine Deneuve02