Chinesisches Roulette
Deutschland 1976, 96 Minuten (DVD: 82 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raaben, Ralf Hütter, Florian Schneider-Esleben
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Ila von Hasperg
Produktionsdesign: Helga Ballhaus, Peter Müller, Kurt Raab

Darsteller: Anna Karina (Irene Cartis), Margit Carstensen (Ariane Christ), Brigitte Mira (Kast), Ulli Lommel (Kolbe), Volker Spengler (Gabriel Kast), Alexander Allerson (Gerhard Christ), Andrea Schober (Angela Christ), Macha Méril (Traunitz)

Rebellion und Reaktion

„Ich finde, dass sich Beziehungen
zwischen Menschen weitgehend durch
Konflikte definieren. Wenn ich mich
hinsetze und einfach etwas hinschreibe,
ohne groß nachzudenken, dann wird
da wahrscheinlich mehr von
Konflikten die Rede sein als von
Zuwendungen zwischen Menschen.“
(Rainer Werner Fassbinder)

Das knallige Grün der Wiesen zu Beginn von Fassbinders „Chinesisches Roulette” – einem für das Fernsehen produzierten Film – sticht in die Augen. Auch ansonsten ist der Film in den Farben kunterbunt, manchmal geradezu grell. Die Geschichte allerdings, die filmische Studie über eine Ehe bzw. Familie, ist alles andere als farbig, eher dem film noir zuzuordnen. Fassbinders starke Zweifel an den „Institutionen” Ehe und Familie, sicherlich teils eigener Erfahrung entsprungen, teilweise aber auch aus der Anschauung der engen familiären Strukturen der 50er und 60er Jahre, hat er in etlichen Filmen immer wieder thematisiert. Konträr dazu sein eigenes Leben, konträr und widersprüchlich. Immer wieder tauchte seine Mutter Lilo Pempeit in seinen Filmen auf. Anderseits scheiterten seine Versuche, in irgendwelchen Formen von Kommunen eine Alternative zu finden.

„Chinesisches Roulette” erzählt von Ariane und Gerhard Christ (Margit Carstensen, Alexander Allerson), einem begüterten Ehepaar, dessen Tochter Angela (Andrea Schober) seit vielen Jahren an Kinderlähmung leidet und an Krücken laufen muss. Versorgt wird Angela von der stummen Traunitz (Macha Méril), nicht von den Eltern, die beruflich viel unterwegs sind. Der Film beginnt mit einem solchen Abschied. Während Gerhard noch Oslo fliegen muss, will Ariane nach Mailand. Doch der Schein trügt. Gerhard trifft sich heimlich mit der Französin Irene (Anna Karina) in einem abgelegenen Schloss der Familie, das von der intriganten Kast (Brigitte Mira) und deren Sohn Gabriel (Volker Spengler) verwaltet wird. Was das heimliche Liebespaar nicht weiß, aber schnell feststellen muss: Auch Ariane verweilt nicht in Mailand, sondern ebenfalls im Schloss mit ihrem Geliebten Kolbe (Ulli Lommel), einem Angestellten ihres Mannes.

Was die beiden Paare ebenfalls nicht wissen: Angela ist mit Traunitz unterwegs zum Schloss, denn das Mädchen weiß über ihre Eltern besser Bescheid, als die sich vorstellen können. Und Angela, die sich im Laufe ihres jungen Lebens eine gute Portion Zynismus angeeignet hat, kennt keine Gnade. Sie provoziert ihre Eltern, besonders ihre Mutter, bis zur Weißglut ...

Die Rollen scheinen völlig vertauscht. Es ist der Tausch, der Mehrwert – wie Marx sagen würde –, der die Beziehungen der Handelnden bestimmt. Das Ehepaar ist nicht mehr wirklich zusammen und beisammen, ihre Tochter ist in der Gefühlswelt der Eltern, besonders der Mutter, nicht mehr Tochter, sondern: Ballast. Man hat die Partner gewechselt und eine Gouvernante, Traunitz, noch dazu stumm, ist so etwas wie die soziale Mutter Angelas. Die Lüge, der Betrug und die kontinuierliche Anspannung beherrschen die Szenerie, die man – als die beiden Paare sich im Schloss begegnen – durch Lachen lösen will. Doch das wirkt nur momentan. Der Tausch ist längst vollzogen, nicht nur der Partnertausch im Verhältnis zur weiter existierenden offiziösen Ehe der Eltern, auch der Elterntausch. Dazwischen steht Angela, die mit ihrem geschienten Bein auf Krücken durch das Schloss geht, in die Zimmer schaut und den Eltern den Spiegel vorhält angesichts ihres gescheiterten Lebens.

Sicher: da ist Geld en masse (Gerhard hatte seiner Geliebten vor Jahren 300.000 Mark geliehen, damit diese ein Geschäft aufmachen konnte). Doch die offiziös dargestellten Beziehungen sind längst am Ende. Besser gesagt: Weil Geld da ist, regeln sich auch die privaten Beziehungen in einem Tauschwertprozess. Die Hintergründe dieser Ehekrise lässt Fassbinder im Dunkeln. Aber diese Gründe im einzelnen sind auch nicht wichtig. Die beiden Paare pflegen ihre neuen Tauschbeziehungen – man könnte sagen: solange nicht ein anderes „Gut” auftaucht, das die lockeren Beziehungen wieder löst und neue statuiert. Der Sex ist das einzige Bindemittel, der Markt, auf dem die Tauschbeziehungen sich regeln, die Geschäftsbeziehungen existieren. Angela erscheint als eine Art Ausgestoßene, eine vom Markt verdrängte – verdrängt, weil sie „nichts bringt”, eine Arbeitslose, eine Schwerbehinderte, ein Krüppel, der der Wohlfahrt übereignet wurde: Traunitz, der stummen Wohlfahrt, die macht, was sie machen kann.

Fassbinder begreift diese Szenerie – wie man aus anderen Filmen weiß – aber nicht als ein Problem ausschließlich begüterter Familien respektive Ehen. In proletarischen Familien wirken diese Tauschbeziehungen nur in anderer Weise. Wenn er am Schluss des Films jenen berühmten Spruch einblendet, in dem es heißt „... bis dass der Tod euch scheidet”, so mag dies vielleicht allzu plakativ erscheinen. Dem ist nicht so. Denn der Film zeigt, dass es nicht der Tod ist, der scheidet, dass es nicht das Eheversprechen ist, was die Beziehungen regelt, sondern tatsächlich ausschließlich der Tauschwert.

Die Liebe, die Zuneigung spielt in keiner der geschilderten Beziehungen irgendeine Rolle. Konkurrenz, Markt, Geld und das Sozialamt regeln die Beziehungen. Mit einem aber haben die Beteiligten nicht gerechnet: mit der Rache der Unterdrückten, der Rache Angelas. Als alle acht Personen am Abend zu Tisch sitzen, schlägt Angela ein Spiel vor: chinesisches Roulette. Es werden zwei Gruppen gebildet. Jemand stellt eine Frage nach dem Muster: Was würde Person X unter den und den Bedingungen tun. Die anderen müssen raten, was der Fragende meint. Angela stellt die Frage: Was wäre die Person, die ich meine, im Dritten Reich gewesen. Nach falschen Antworten (alle glauben Kast sei gemeint) antwortet sie selbst: ihre Mutter wäre KZ-Leiterin in Bergen-Belsen gewesen.

Die Tauschbeziehungen geraten durcheinander, ja aus den Fugen. Das Gefühl, das rächende Verletzte hat zugeschlagen. Ariane greift zur Waffe, schießt mit einer Pistole. Will eigentlich Angela treffen, schießt dann aber auf Traunitz, die am Hals verletzt wird. Das Rebellische wehrt sich, das Reaktionäre schießt zurück – nicht „ausgerechnet” auf Traunitz, sondern in voller Absicht. Das Gefühl lässt sich nicht ausmerzen – auf beiden Seiten. Ganz entgegen der geregelten Tauschbeziehungen reagiert auch Ariane emotional. Sie will ihrer Tochter die letzte Zuflucht nehmen. Dann fällt sie ihrem Mann in die Arme, nachdem der den Hausanwalt angerufen hat und ihm von einem „Problem” erzählt. Aber dieses Problem ist nicht etwa, dass Gerhard Christ erkannt hätte, in welchem Schlamassel diese Familie steckt. Das Problem ist ein geschäftliches, eines, das das Geschäft, die Tauschbeziehungen gefährden könnte: der Schuss. Die „plötzlich” durch das In-den-Arm-Fallen von beiden versichterte „Liebe” entblößt sich in dieser Situation als nichts anderes denn als geschäftlicher Vorgang. Man ist dabei, wieder zur alten Beziehung zurückzufinden, um die eigene Haut zu retten, sprich: die gesellschaftliche Anerkennung und das Geschäft. Die Geliebten stehen abseits, der Manövriermasse des Marktes schon fast wieder zugeordnet.

Das Rebellische in Gestalt Angelas ist noch einmal davon gekommen – mit dem Leben. Aber auch das lässt Fassbinder eigentlich offen. Denn am Schluss zeigt er das Schloss im Dunkeln. Und dann fällt ein zweiter Schuss. Man kann nun spekulieren, wer da auf wen geschossen haben mag. Fast alles ist denkbar. Das Offenlassen dieser Frage hat jedoch nichts mit Unsicherheit zu tun. Es bedeutet letztlich, dass in einer Welt, in der der Tauschwert, die Macht, die Gewalt auch private Beziehungen durchdrungen hat, kaum ein Halt zu finden ist. Die Welt ist da ein bisschen wie Roulette, gelenktes Roulette, gelenkter Zufall. Das Romantische, das Sexuelle, das Erotische, die Zuneigung – all das verkommt zum Mittel zum Zweck, zur Versicherung der eigenen Machtposition, des eigenen Einflusses.

Mitten drin positioniert sich die Intrige, das Falsche in Person der Haushälterin Kast, die es nicht verhindert, sondern befördert hat, dass die Paare hier aufeinander treffen. Mitten drin positioniert sich auch die Neugier in Gestalt ihres Sohnes Gabriel, der vorgibt, einen Roman geschrieben zu haben, dessen Inhalt er aber – was Angela ihm vorhält – von anderen gestohlen hat. Die Intrige und die Neugier können sich nur unter solchen Verhältnissen im wahrsten Sinn des Wortes „einnisten”.

Die Schauspieler positionieren sich in diesem Spiel des Marktes geradezu als wahre Charaktermasken, die glauben, sich selbst positioniert zu haben, die aber eben auch positioniert wurden. Es ist jene „invisible hand”, die schon die klassische Nationalökonomie erkannt hatte, die hinter dem Rücken der Akteure wirksam ist und sich in ihrem Bewusstsein als etwas wie „freier Willen” sichtbar macht. Die Ökonomie beherrscht alle Beziehungen. Und Fassbinder lässt dagegen vielleicht dann doch durchscheinen, dass es darauf ankäme, dies zu erkennen, in sich selbst, um es verändern zu können.

© Bilder: Arthaus
Screenshots von der DVD