Der Sohn
(Le Fils)
Belgien, Frankreich 2002, 103 Minuten
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne

Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Director of Photography: Alain Marcoen
Montage: Marie-Hélène Dozo
Produktionsdesign: Igor Gabriel

Darsteller: Olivier Gourmet (Olivier), Morgan Marinne (Francis), Isabella Soupart (Magali), und als Lehrlinge: Nassim Hassaïni (Omar), Kevin Leroy (Raoul), Félicien Pitsaer (Steve), Rémy Renaud (Philippo)

Am Ball

Die Kamera sitzt ihm im Nacken, als wolle sie ihn antreiben. Eine Handkamera, immer ganz nahe dran an diesem Mann, dem Schreinermeister Olivier (Olivier Gourmet). Sie verfolgt ihn, und ihn verfolgt etwas und er verfolgt jemanden. Olivier ist um die 40, vielleicht auch etwas jünger. Er bildet Jugendliche aus in einer Art Trainings-Center, so genannte „gestrauchelte“ junge Kerle, die etwas lernen sollen. Der kleine, kräftige Olivier, ein wortkarger, immer ernst drein blickender Mann ist konzentriert bei der Arbeit. Kein Wort zu viel kommt ihm über die Lippen. Sein ganzes Dasein scheint auf die Ausbildung der jungen Männer ausgerichtet. 15, 16 sind sie, seine derzeit vier Lehrlinge. Olivier wird nur selten wirklich ungeduldig, böse sowieso nicht. Seine Sinne sind konzentriert auf das, was er tun soll und tun will. Die Jungens gehorchen ihm, lernen, zumeist schnell.

Wir sind an Olivier „dran“, ständig, die ganze Zeit. Wir stehen per Kamera hinter ihm, blicken ihm in Augen, hautnah, betrachten ihn von der Seite, wie er sich bewegt, alles was er tut. Was er sieht, sehen auch wir. Jean-Pierre Dardenne und Luc Dardenne, bekannt geworden u.a. durch „Das Versprechen“ (1996) und „Rosetta“ (1999), vormals dem Dokumentarfilm verschrieben, dokumentieren auch hier über eine Spielhandlung, die so reell erscheint, dass man manchmal nicht weiß, ob man Schauspieler oder wirkliche Schreiner und Lehrlinge vor sich hat.

Szenenwechsel. Olivier richtet sein Essen für die Arbeit. Es läutet. Eine Frau betritt die Wohnung. Magali (Isabella Soupart) tritt herein. Beide sprechen kaum ein Wort. Olivier druckst herum. Magali scheint etwas zu wollen. Aber zunächst schweigt sie. Dann die Ankündigung, sie werde wieder heiraten und sei schwanger.

Szenenwechsel. Die Werkstatt. Holz, Werkzeug, alles wohlgeordnet. Die kleinen, etwas dicken, aber äußerst geschickten Hände Oliviers werkeln, zeigen, korrigieren. Es wird gemessen, angepasst, alles muss „sitzen“. Bohlen aus verschiedenen Holzarten, man riecht das Holz förmlich. Doch schon zu Anfang des Films scheint Olivier auch nervös, nicht bei der Arbeit, aber in den kleinen, sekundenlangen Pausen, die er hat, bevor er sich wieder einem Lehrling widmet. Ein fünfter Lehrling will bei ihm Schreiner lernen. Zunächst lehnt er ab, dann nimmt er ihn doch. Francis (Morgan Marinne) heißt der 16jährige. Er saß fünf Jahre im Gefängnis. Olivier schleicht um ihn herum, beobachtet ihn, verfolgt ihn nach der Arbeit, schaut, wo er hingeht, nimmt am nächsten Tag gar Francis Hausschlüssel und dringt heimlich in dessen Zimmer ein. Sucht er etwas? Francis lernt schnell, auch wenn ihm eine Bohle beim Heraufsteigen auf eine Leiter herunterfällt. Er sitzt auf dem Boden, die Arme über den gesenkten Kopf geschlagen, fast autistisch wippend.

Olivier scheint Francis wie die anderen zu behandeln, kein größeres Interesse an ihm zu haben. Das täuscht, das täuscht er vor. Er will etwas wissen, Gewissheit hat er schon und doch wieder nicht. Zwischen dem knappen „Guten Morgen“ und dem abendlichen ebenso kurzen „Bis morgen“ wird nicht viel gesprochen. Und wenn, dann zur Arbeit. Doch dann kommen die Fragen, mal hier eine, mal dort, in größeren Abständen, dann in immer kleineren. Ob er am Wochenende nicht nach Hause fahre? Nein, der Freund seiner Mutter wolle nicht, dass Francis komme. Warum er im Gefängnis war? Weil er ein Autoradio gestohlen habe. Dafür habe er fünf Jahre gesessen? Nein, es sei jemand zu Tode gekommen. Schweigen. Olivier hat Francis, weil er das Wochenende eh zu Hause ist, gefragt, ob er mit ihm zum Betrieb seines Bruders fahren wolle, um Holz zu holen.

Francis scheint den Meister zu mögen. Er ist kurz angebunden, dieser Olivier, aber weder ungerecht, noch hysterisch. Francis fasst Vertrauen zu ihm, fragt ihn gar, ob er sein Vormund werden wolle. Er ist fasziniert von der Art, wie präzise und korrekt Olivier seine Aufgabe versteht. Olivier ist in der Lage, als Francis ihn danach fragt, den Abstand zwischen dem rechten Fuß des Lehrlings und dem linken des Meisters haargenau zu schätzen: vier Meter elf Zentimeter.

Aber was steht für Olivier zwischen ihm und Francis? Man spürt es förmlich, permanent. Er scheint Francis zu kennen. „Ist er das?“ fragt Magali ihren Ex-Mann und will schon auf Francis los gehen, wovon Olivier sie gerade noch abhalten kann.

In der Schreinerei seines Bruders – nach stundenlanger Fahrt – wird weiter ausgebildet: Was ist das für ein Holz? Francis schaut in seinem Lehrbuch nach: Pinie. Aber welche Sorte? Francis erkennt die Sorte. Man holt vier, fünf lange Bohlen, einige sägt man in zwei Teile, um sie in dem Anhänger transportieren zu können. Und dann, ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel diese „Aussage“, die für Francis alles ändert und doch nichts ändert, die für Olivier kaum eine Art Befreiung darstellt. „Den, den du getötet hast, das war mein Sohn.“ Wie eine Art „Zeugenaussage“ kommt es aus dem Mund Oliviers – ganz ruhig, als ob er nur gesagt hätte: „Er habe auch einmal einen Sohn gehabt, und der ist tot.“ Warum sagt er das zu dem Mörder seines Sohnes? Olivier wird es selbst nicht genau wissen.

Francis flüchtet zwischen die großen Stapel Holz. Olivier hinterher. Er will ihm nichts tun. Er weiß gar nicht, was er eigentlich will. Er sieht diesen Jungen vor ihm, der jetzt vielleicht so alt ist wie sein Sohn heute wäre.

Im nachhinein erweist sich der Film als ein einziges Trauma, ein sozusagen in engen Grenzen, in abgesteckten Bahnen eingepferchtes „zivilisiertes“ Trauma. Francis, der nachts nicht schlafen kann und regelmäßig Schlaftabletten nimmt, ein 16jähriger, der einen Mord „hinter sich“ hat und deswegen immer vor sich, vor Augen, pfercht sich in die Hoffnung auf einen Mann, den er zu mögen beginnt, der ihm einen gewissen Halt geben könnte – und dann ist es der Vater ...

Olivier quetscht sich schon jahrelang in dieses „Trauma mit wachen Augen“. Der Schreinerberuf wird ihm zur Berufung im Sinne des Aushaltens seiner Erinnerung an den Tod seines Sohnes. Er, dessen Ehe gescheitert ist, hält sich fest am Holz, an den Werkzeugen, an der Ausbildung, an seinen Lehrlingen. Er hält sein Trauma in mehr oder weniger erträglichen Grenzen, um nicht „einfach“ kaputt zu gehen. Die Kamera hält uns hautnah an diesen Traumen der beiden.

Als es gesagt ist, ergreift Francis zunächst die Flucht, bis ihn Olivier vor der Schreinerei im Wald festhalten und überwältigen kann. Sie laden das Holz auf den Anhänger. Dieser Moment ist erträglich und unerträglich zugleich. Man atmet auf, keiner kommt zu Schaden. Olivier will Francis nicht töten. Rache steht nicht im Raum. Oder doch? Was steht im Raum? Im Raum steht, das Unerträgliche ertragen zu müssen, das Töten als Elfjähriger wie das Verlieren eines Sohns. Das Unerträgliche – verschlimmert es sich durch den Satz Oliviers, er sei der Vater des Sohnes, den Francis getötet hatte? Keiner weiß es, selbst die beiden werden es im Moment nicht wissen. Oliviers Blick auf Francis drückt die ganze Zeit des Films über diese Unmöglichkeit, das Unerträgliche zu ertragen aus, ebenso wie die Notwendigkeit, es zu müssen. Der Alltag wird zum Gefängnis, zum Korsett der nicht mehr durchschaubaren Gefühlswelten der beiden, die noch dazu selbst Vater und Sohn sein könnten! Sie laden das Holz auf. Sie schauen sich an. Ende.

Kein Mensch weiß, was dann wird. Jean-Pierre und Luc Dardenne muten viel zu, aber das ist gut so, denn es weist über den Film hinaus. Die handwerkliche Geschicklichkeit des Meisters und die Lernwilligkeit und Konzentration des Lehrlings korrespondieren mit der Permanenz der Tragik – für beide. Das kann jedem (in anderen Konstellationen) auch passieren. Wenn man den Film ob seiner im positiven Sinne penetranten Dreistigkeit, „am Ball“ zu bleiben, das heißt, diesen Olivier und dann auch diesen Francis immer und immer wieder im Alltag verstrickt, „aufgefangen“ in ihrer Tragik deutlich sichtbar zu machen, nicht für langweilig hält – irgendwo las ich, man hätte das alles auch in 20 Minuten zeigen können; ein erschreckender Unsinn –, dann kann einen „Le Fils“ nur erschreckend begeistern.