Die Affäre Dreyfus
(L’Affaire Dreyfus)
Frankreich, Deutschland 1995, 210 Minuten
Regie: Yves Boisset

Drehbuch: Yves Boisset, Jean-Denis Bredin, Jorge Semprún
Musik: Angélique Nachon, Jean-Claude Nachon
Director of Photography: Yves Nahan, Jacques Loiseleux
Montage: Laurence Leininger
Produktionsdesign: Gilbert Gagneux

Darsteller: Thierry Frémont (Alfred Dreyfus), Pierre Arditi (Esterhazy), Gérard Desarthe (du Paty de Clam), Christian Brendel (Picquart), Bernard-Pierre Donnadieu (Henry), Philippe Volter (Mathieu Dreyfus), Georges Wilson (de Boideffre), Helmut Berger (Schwartzkoppen), Laura Morante (Lucie Dreyfus), Jean Bouchaud (Zurlinden), Katerina Brozova (Marguerite Pays), Jacques Dacqmine (Mercier), André Falcon (Sandherr), Greg Germain (Bravard), Jirí Knot (Gribelin), Philippe Laudenbach (Bernard Lazare), Richard Martin (Forzinetti), Daniel Mesguich (Léon Blum), Henri Poirier (Demange), Rita Brantalou (Drumont), Petr Popelka (Herzl), Mathieu Demy (Marcel Proust), Jean-Claude Drouot (Émile Zola)

„J’accuse”

Es gibt wohl kaum ein anderes Ereignis in der französischen Geschichte nach der Französischen Revolution – zumindest nicht während der Friedenszeiten –, das die soziale, politische, kulturelle Entwicklung des Landes derart nachhaltig geprägt hat wie die sog. Dreyfus-Affäre. Bis heute scheint der am 22.12.1894 zu lebenslanger Haft verurteilte Hauptmann Dreyfus in Frankreich nicht vollständig rehabilitiert zu sein. 100 Jahre nach der juristischen Rehabilitierung von Dreyfus, am 12.7.2006, entschied Staatspräsident Chirac, für Dreyfus eine Feier in einer Militärschule in Paris zu organisieren. Die Aufnahme der sterblichen Überreste in den Panthéon allerdings wird Dreyfus bis heute verweigert. Und auch das französische Militär weigert sich bis heute, Dreyfus ein Denkmal zu setzen. Nur in den Jardines des Tuileries findet sich ein solches Denkmal für den zu Unrecht und aufgrund von Intrigen u.a. zum Hochverrat verurteilten Hauptmann der französischen Armee.

Die Geschichte um Dreyfus und die Folgen ist mehrfach in Filmen behandelt worden, u.a. 1930 mit Fritz Kortner in der Hauptrolle, 1931 mit Cedric Hardwicke und 1959 mit Dieter Borsche. 1995 nahm sich Yves Boisset des Themas an und unternahm den sicherlich gewagten Versuch, die Geschichte möglichst umfassend zu dokumentieren. Das 210 Minuten lange u.a. für La Sept Arte produzierte Fernsehspiel setzt dabei vor allem auf eine detailgetreue Rekonstruktion der Ereignisse von der Entdeckung eines zunächst unbekannten Spions, der für den deutschen Militärattaché arbeitete, 1894 bis zur Freilassung von Dreyfus 1899.

1894. Der Offizier Esterhazy besucht regelmäßig den deutschen Militärattaché Schwartzkoppen, um ihm Geheimmaterial aus dem französischen Kriegsministerium anzubieten. Esterhazy lebt über seine Verhältnisse, ist ständig verschuldet und versucht, über die Spionage für die Deutschen an Geld zu kommen. Doch auch das französische Kriegsministerium hat bei Schwartzkoppen eine Spionin, die dort angestellte Madam Bastian, die eines Tages im Papierkorb von Schwartzkoppen ein Dokument findet, das sie dem in der Geheimdienstabteilung des Kriegsministeriums arbeitenden Major Henry übergibt. Henry, der ebenfalls im Geheimdienst arbeitende Du Paty, Leutnant Picquart und General Boideffre rätseln zunächst, wer das Papier, das Einzelheiten über neue Waffen etc. enthält, geschrieben haben könnte. Aus den Einzelheiten, die dort aufgeschrieben wurden, doch vor allem wegen ihrer antisemitischen Überzeugung verdächtigen sie schon bald den Hauptmann Alfred Dreyfus, einen Juden.

Kurz darauf wird Dreyfus unter einem Vorwand ins Kriegsministerium gerufen und verhaftet. Dreyfus wird in Einzelhaft gesperrt, jeglicher Kontakt mit der Außenwelt wird ihm untersagt. Auch seiner Frau gegenüber schweigt Du Paty, als er die Wohnung der Dreyfus durchsuchen lässt. Obwohl keine Beweise gegen Dreyfus vorliegen und obwohl Handschriftenproben keine Übereinstimmung mit dem gefundenen Papier ergeben, wird Dreyfus der Prozess gemacht. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen, den Richtern heimlich ein gefälschtes Dokument zugespielt, das Dreyfus Schuld angeblich beweisen soll.

Dreyfus wird am 22.12.1894 zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel (Französisch-Guyana) verurteilt. In einer öffentlichen „Zeremonie” am 5. Januar 1895 wird Dreyfus militärisch degradiert – unter dem Beifall der vor den Toren der École Militaire versammelten Menge, die sich in antisemitischen Sprechchören ergießt und „Tod Dreyfus” und „Tod den Juden” ruft. Auch in „Le Figaro” werden diese antisemischen Hetztiraden in Artikeln unterstützt, ebenso in der Zeitung der katholischen Kirche.

Der Verteidiger von Dreyfus Demange, Dreyfus Bruder Mathieu und seine Frau Lucie jedoch wollen nicht aufgeben. Sie nehmen Kontakt zu dem Publizisten Lazare auf, der dafür sorgen soll, dass die öffentliche Meinung, die ganz überwiegend gegen Dreyfus eingestellt ist, sich ändert und eine Revision des Prozesses fordert. Lazare stellt alle Fakten und Indizien zusammen und publiziert dies.

Als der ermittelnde Leutnant Picquart aus dem Kriegsministerium 1895 zum Colonel befördert und ihm die geheimdienstliche Abteilung des Ministeriums übertragen wird, findet er eines Tages auf seinem Schreibtisch weiteres Material, das Madame Bastian über Henry aus der deutschen Militärbotschaft entwendet hat. Darunter befindet sich ein Schriftstück, auf dem der Name Esterhazys – des wirklichen Spions – steht. Doch Picquart, der jetzt starke Zweifel an der Schuld von Dreyfus hat, stößt bei seinen Vorgesetzten und beim Kriegsminister nicht nur auf taube Ohren. Sie weisen ihn an, über diese Entdeckung zu schweigen. Picquart ist entsetzt. Er lanciert seine Informationen an Mathieu Dreyfus, der Esterhazy daraufhin öffentlich beschuldigt, der wahre Spion zu sein.

Während Henry beauftragt wird, an der Fälschung von weiteren Dokumenten zu arbeiten, die Dreyfus zusätzlich belasten sollen, versetzt man Picquart nach Tunis, um ihn mundtot zu machen.

Trotz allem kommen die staatlichen Behörden aufgrund der öffentlichen Meinung, in der langsam, aber sicher und vermehrt Zweifel an der Schuld von Dreyfus laut werden, nicht mehr darum herum, Esterhazy den Prozess zu machen. Sie hoffen, dass sich durch einen Scheinprozess die Lage wieder beruhigt. Esterhazy wird freigesprochen.

Und jetzt passiert etwas, womit die Intriganten und Antisemiten im Kriegsministerium nicht gerechnet haben. Kein anderer als Emile Zola, der damals bedeutendste französische Schriftsteller, veröffentlicht in der Literaturzeitschrift „L’Aurore” des späteren französischen Ministerpräsidenten Clemenceau sein berühmt gewordenes Pamphlet „J’accuse”, in dem – ohne dass Zola wirklich Beweise hat – der französische Ministerpräsident angesprochen wird. Zola nennt nicht nur die Namen der Intriganten. Er beschuldigt sie der Lüge, des Komplotts und der Feigheit und fordert, dass der wahre Schuldige Esterhazy verurteilt und Dreyfus rehabilitiert wird. Wegen Beleidigung u.a. wird Zola verurteilt. Doch inzwischen ist nicht nur bekannt geworden, dass Henry bewusst Dokumente gefälscht hat. Die Öffentlichkeit steht mehrheitlich nun auf Seiten des Verurteilten, der 1899 freigelassen, allerdings wiederum verurteilt wird (zu 10 Jahren Haft), dann allerdings vom Ministerpräsidenten aufgrund des öffentlichen Drucks und auch von Protesten aus dem Ausland begnadigt wird.

Erst 1906 hebt das Kassationsgericht das erste Urteil gegen Dreyfus auf und erklärt es endgültig für nichtig.

Boisset schildert diese Ereignisse – und einiges mehr – in einer dramaturgisch sehr dichten Inszenierung. In dem fast dreieinhalb Stunden langen Film kommt eigentlich nie Langeweile auf, auch wenn die Verfolgung der Ereignisse manchmal durchaus anstrengend ist. Trotzdem kann man die Verwicklung der zahlreichen Personen – darunter auch des Sozialistenführers Léon Blum, der lange an Dreyfus Unschuld zweifelt, und des Schriftstellers Marcel Proust – in die Ereignisse gut verfolgen. Die Inszenierung ist – trotz der zahlreichen Einzelereignisse – nie wirr; der rote Faden bleibt stets erhalten.

Der Film hält sich an den Grundsatz der Einheitlichkeit des Dramas (Einheit von Ort, Zeit und Handlung), weicht nicht auf Nebenschauplätze aus. Zwischendurch wechselt Boisset ein paar Mal den Ort des Geschehens, um Dreyfus Leben auf der Teufelsinsel zu zeigen. Man sieht den Verurteilten, einsam auf einer abgelegenen Insel, in Einzelhaft in einer Holzhütte (in Wirklichkeit wohl ein Steinbau), die nach ein paar Monaten Haft auf Anweisung des Kriegsministeriums mit einer Palisade aus Holzpflöcken umzingelt wird, so dass Dreyfus nicht einmal aufs Meer schauen kann. Thierry Frémont spielt einen verzweifelten, kranken Mann, der aber trotz seines furchtbaren Schicksals nie aufhört, an die Gerechtigkeit – selbst des französischen Militärs – zu glauben. Dieser Glaube und die Liebe zu seiner Familie, die sich über all die Jahre permanent und vehement für ihn einsetzt, geben ihm – trotz schwerer Krankheiten – die Kraft zu überleben.

Boisset zeigt weiterhin die intriganten Machenschaften im Kriegsministerium. Er zeigt einen hinterhältigen und machtbesessenen General de Boideffre, einen ebensolchen Minister namens Mercier, einen militärischer Macht gegenüber devoten Major Henry, einen im Grunde innerlich völlig schwachen Spion Esterhazy, der durch den Schutz der Behörden allerdings glaubt, sein erbärmliches Leben fortführen zu können. Er zeigt aber auch einen Colonel Picquart, der sich im Lauf der Zeit wandelt, der nach der Entdeckung der neuen Dokumente sein eigenes Gewissen für wichtiger hält als den (Kadaver-)Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten, der Degradierung und Strafversetzung auf sich nimmt, was er nicht gemusst hätte.

In den Film montiert sind immer wieder die erschreckenden Szenen antisemitischer Demonstrationen und Ausschreitungen, in deren Verlauf auch jüdische Geschäfte zerstört werden. Vor allem aber zeigt der Film die Bedeutung eines Teil der französischen Publizisten, Intellektuellen und auch Politiker (vor allem der Linken und Republikaner) für die Aufklärung der Affäre Dreyfus, die in Wirklichkeit eine Affäre des Staates war. Nicht nur Zolas „J’accuse”, auch die Arbeit der Sozialisten und Republikaner im Parlament und die der Zeitungen und Zeitschriften, z.B. von Clemenceau, für die Aufdeckung des staatlichen Lügengebäudes und des Komplotts gegen Dreyfus sowie für die Bedeutung des Antisemitismus bei dessen Verurteilung und bei der jahrelangen Vereitelung der wirklichen Umstände kommen in dem Film gut zur Wirkung.

Das heißt vor allem: Der Film verdeutlicht, wie durch die Affäre Dreyfus die tiefe Spaltung der französischen Gesellschaft offenbar wurde. Auf der einen Seite standen Konservative, katholische Kirche und ein Großteil der Publizistik, die nicht nur antisemitisch waren, sondern für die auch Staatsräson, Gehorsam und militärische Stärke Vorrang vor allem anderen, vor allem vor Demokratie und Menschenrechten, hatten. Auf der anderen Seite stehen Republikaner, Sozialisten und zunächst einige wenige Publizisten und Zeitungen, die letztlich auf die positiven Errungenschaften der Französischen Revolution rekurrierten und darauf pochten, dass rechtsstaatliche Verfahren, Menschenrechte und insgesamt Demokratie im Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens zu stehen hatten. „J’accuse” wird noch heute als eine Art „Gründungsurkunde” einer reformierten französischen Gesellschaft eingeschätzt und vor allem als Dokument, das fortan die kritische Aufgabe der Intellektuellen in der Gesellschaft begründete – obwohl das Pamphlet sicherlich auch Passagen enthält, die mehr im Trüben fischen und pathetisch wirken, als in der Tradition der Aufklärung zu stehen.

Die Folgen der Affäre – in der staatliche Institutionen aus Machtgelüsten heraus und in antidemokratischer und antisemitischer Gesinnung immerhin einen wirklichen Spion (Esterhazy) schützten, also im Grunde selbst Hochverrat begangen hatten ! – waren drastisch. Die katholische Kirche, in ihren moralischen Vorstellungen reaktionär und rigide und eine Speerspitze des Antisemitismus – wurde nach der Freilassung von Dreyfus quasi entmachtet. Über 2.500 kirchliche Schulen wurden geschlossen, Mitglieder von Ordensgemeinschaften durften nicht mehr als Lehrer arbeiten. Am 9.12.1905 hob ein Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat das Konkordat mit dem Vatikan einseitig auf, die Finanzierung der Kirchen durch den Staat wurde abgeschafft, Religionsunterricht wurde an den Schulen aus einem Pflichtfach zu einer freiwilligen Angelegenheit erklärt, das Kruzifix aus den Schulen verbannt.

Diese Dinge, und weitere nach der Dreyfus-Affäre eingeleitete Liberalisierungen, wirken bis heute fort. Und es ist „J’accuse”, dieses Pamphlet Zolas, das eine Tradition politischer Verantwortung, insbesondere der Intellektuellen, in Frankreich in Gang setzte.

Dreyfus selbst wurde zwar wieder in die Armee aufgenommen, allerdings 1907 bereits in den Ruhestand versetzt. Er nahm als Freiwilliger am ersten Weltkrieg teil und starb 1935 im Alter von 75 Jahren.

„Die Affäre Dreyfus” ist ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, spannend inszeniert – trotz seiner Länge – und sicherlich auch heute noch brisant angesichts immer wiederkehrender Versuche, staatliche Macht zu missbrauchen, wie z.B. etliche Geheimdienstaffären in verschiedenen Ländern Europas auch nach dem zweiten Weltkrieg immer wieder demonstrierten.

© Bilder: La Sept Arte


 

Affäre Dreyfus, Die-Karikatur

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