Die Jagd
(Jagten)
Dänemark 2012, 115 Minuten
Regie: Thomas Vinterberg

Drehbuch: Tobias Lindholm, Thomas Vinterberg
Musik: Nikolaj Egelund
Director of Photography: Charlotte Bruus Christensten
Montage: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud
Produktionsdesign: Torben Stig Nielsen

Darsteller: Mads Mikkelsen (Lucas); Thomas Bo Larsen (Theo); Annika Wedderkopp (Klara); Lasse Fogelstrøm (Marcus); Susse Wold (Grethe); Anne Louise Hassing (Agnes); Lars Ranthe (Bruun); Alexandra Rapaport (Nadja); Sebastian Bull Sarning (Torsten); Steen Ordell Guldbrand Jensen (Lars T); Daniel Engstrup (Johan); Troels Thorsen (Bent); Søren Rønholt (Big Carsten); Hana Shuan (Tiny)


Blindheit und Wut

„Der Schock und das Unbehagen über die
Geschehnisse der vergangenen Tage sitzen
tief im ostfriesischen Emden - und nicht
nur dort. Der Sexualmord an der elfjährigen Lena,
die in einem Parkhaus mitten in der
Innenstadt missbraucht und getötet wurde,
schockiert die Menschen.
Verstört sind viele aber auch angesichts
der Hassausbrüche gegen einen 17-jährigen
Berufsschüler, der zwischenzeitlich als
Verdächtiger galt. Im Internet und sogar
bei einem Auflauf wütender Menschen
vor einer Emder Polizeiwache wurde sogar
zu Lynchjustiz gegen ihn aufgerufen.
Seit Freitag ist klar: Der junge Mann ist unschuldig.
Die Polizei jedenfalls reagiert entsetzt
auf die aufgeheizte Atmosphäre in der
eigentlich so verschlafenen niedersächsischen
tadt. Von 'Wild-West-Methoden', die in
einem Rechtsstaat nicht zu tolerieren
seien, spricht Bernhard Witthaut, Bundeschef
der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Er
fordert, die Rädelsführer derartiger
Aufrufe in sozialen Netzwerken die 'volle
Härte des Gesetzes spüren zu lassen'.
Seine nicht minder entsetzten Emder Kollegen
hatten sich tags zuvor ähnlich geäußert.“
(Handelsblatt vom 31.3.2012) (1)


Angst kann sich äußerst langsam, aber vehement in jemanden hineinfressen. Ein anfängliches fades, nur leicht  unangenehmes Gefühl kriecht behände in jemandem hoch. Es nagt. Der Horrorfilm lebt teilweise von dieser menschlichen Erfahrung. Er personifiziert diese schleichende Angst in Gestalten, die real nicht existieren. In der Sage war es der Alp, der sich nachts auf die Brust setzt und dem Betroffenen böse Träume verschafft. In den modernen Gruselfilmen sind es Aliens, Geister oder andere, zumeist hässliche Gestalten, die diese Angst heraufbeschwören.

In der Realität ist das meist tragischer, ernster und bösartiger. Hier sind es nicht Außerirdische oder Geister, nein, die Nachbarn, der Vater, der Onkel – oder gar eine ganze Gemeinschaft, die terrorisiert – in welcher Form auch immer. Fritz Lang hat uns 1936 in „Blinde Wut“ (Fury) (2) eine solche Gemeinschaft präsentiert, die einen unschuldigen Mann fast gelyncht hätte, weil er (fälschlich) der Entführung eines Kindes verdächtigt wurde. Die Reaktion auf derartigen Terror ist oft: Gegenterror. Lang zeigte auch dies, als Spencer Tracy in der Rolle des Verfolgten bittere Rache nehmen wollte.

Thomas Vinterberg, der 1998 mit „Das Fest“ einen phänomenalen Film präsentiert hatte, in den Jahren danach allerdings Filme produzierte, die niemanden wirklich begeistern konnten (wie z.B. „It's All About Love“, 2003), knüpft in gewisser Weise in seinem 2012 inszenierten Film „Die Jagd“ an Filme wie „Blinde Wut“ an, wählt allerdings dramaturgisch einen etwas anderen Weg.

Lucas, gespielt von Mads Mikkelsen, kehrt nach der Scheidung von seiner Frau und der Trennung von seinem Sohn Marcus in seinen Heimatort zurück und beginnt, als Erzieher im dortigen Kindergarten zu arbeiten. Lucas hat hier viele Freunde von früher, vor allem aber Theo und dessen Frau Agnes. Mit Theo und einem halben Dutzend anderer Männer ging und geht Lucas z.B. auf die Jagd. Sorgen macht ihm, dass seine Ex-Frau ihm den Kontakt mit seinem Sohn drastisch begrenzt.

Die Kinder im Kindergarten mögen ihn; Lucas hat das gewisse Feeling für Kinder, weiß mit ihnen umzugehen und kann Konflikte lösen. Auch Theos und Agnes vierjährige Tochter Klara mag Lucas – mehr als die anderen Kinder fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Als sie Lucas eines Tages einen Kuss auf den Mund gibt und dieser ihr sagt, das dürfe sie nur bei Mama und Papa, ist Klara verletzt, weil sie sich zurückgesetzt glaubt. Sie erzählt der Kindergartenleiterin Grethe, sie hasse Lucas; und auf Nachfrage erzählt das Mädchen, Lucas habe ihr seinen Penis gezeigt, der in den Himmel geragt habe.

Tatsächlich hatte sie so etwas in einem ganz andren Zusammenhang gesehen, auf einem Foto mit einem unbekannten Mann, das ihr großer, pubertierender Bruder Torsten sowie dessen Freund, ohne darüber nachzudenken, was sie da tun, ihr kurz gezeigt hatten.

Grethe, die Kindergartenleiterin, ist schockiert. Sie holt Ole von der Ortsverwaltung; zusammen fragen sie Klara nochmals, was sie gesehen habe. Klara tut das alles längst leid, denn sie hasst Lucas nicht wirklich; sie mag ihn nach wie vor. Doch ihr Leugnen gegenüber Ole und Grethe treibt diese nur zu der Meinung, das Kind habe Angst, leugne deshalb und daher sei das alles tatsächlich passiert.

Was jetzt beginnt, ist eine zunächst schleichende, aber immer härtere Verfolgungsjagd auf Lucas …
Man sollte sich darüber im Klaren sein: Vinterbergs Film handelt nicht vom Thema Kindesmissbrauch – nicht nur, weil in der Geschichte gar kein Missbrauch vorkommt. „Die Jagd“ handelt vom Verdacht und den von Menschen gezogenen Schlussfolgerungen aus einem solchen Verdacht. Selbst das ist nicht das eigentliche Thema. Vinterberg – weit davon entfernt, in irgendeiner Szene des Films den Zeigefinger zu heben oder Beschuldigungen auszusprechen – konterkariert uns mit der Metamorphose einer Gruppe von Menschen zur unerbittlichen Sekte, zur skrupellosen geschlossenen Gemeinschaft von rachsüchtigen, aggressiven Monstern. Gerade diese still vor sich gehende, kaum einmal krachend daher kommende Verwandlung ist es bei mir gewesen, die stellenweise noch etwas anderes auslöste: Hass und Verachtung gegenüber diesen wild gewordenen Menschen. Auch das kann ein Ergebnis der Rezeption dieses Films sein (wie in Langs „Blinde Wut“ beim dortigen Opfer, das zum Täter zu werden drohte).

Wir protestieren des öfteren (meist zu Recht) gegen Sekten, ideologisch, in welcher Richtung auch immer stark ausgerichtete Gruppen, die nur das als wirklich akzeptieren, was in ihr Weltbild passt, das zudem für derart unangreifbar deklariert wird, dass jedes Mittel recht erscheint, um es zu zu realisieren oder zu verteidigen.

Vinterberg zeigt uns in einer geradezu furchterregend stillen Art und Weise, dass der Terror ausschließlich der Normalität entwächst. Lucas bester Freund Theo, der ihn seit der Kindheit kennt, glaubt von Anfang nicht recht dem, was Klara erzählt hat – und doch wird er Teil der meisten anderen in diesem Ort, die Lucas immer weitergehend ausschließen – mit Prügel, mit Verbot, im Supermarkt einzukaufen, mit der Tötung seines Hundes, mit einem Stein, der durch sein Fenster fliegt – kurzum mit Erklärung von Lucas zum Aussätzigen, Paria, zu einem, der eigentlich getötet gehört. Der Zweifel nagt – und wird gefüttert. Die Angst gräbt sich hinein -  und wird gut genährt. Die Aggression steigt auf – und wird durch weitere Märchen und konstruierte Geschichten zum Recht erhoben.

Andererseits präsentiert Mikkelsen in Lucas einen Mann, der nicht flüchtet, eine andere Heimat sucht, sondern der instinktiv spürt, dass es diesen anderen Ort nicht gibt. An fast jedem Ort der Welt würde er das Gleiche erleben. Er will – so paradox das klingen mag – in diese Gemeinschaft zurück, weil es keine andere gibt. Selbst allerdings dann, als die Polizei und der Richter davon ausgehen, dass Lucas unschuldig ist, bleibt er lange Zeit noch Aussätziger. Und das Ende des Films belehrt uns nicht eines Besseren.

Weder Grethe, noch Ole, noch Agnes, noch viele andere glauben Lucas nach seiner Freilassung. Wenn ein Kind so etwas erzählt, muss es stimmen. Das zum einen. Wenn das Kind später leugnet, weil es die Geschichte erfunden hat, leugnet es nur aus Angst. Die Geschichte muss also stimmen, und alles deutet dann auch darauf hin, dass es noch mehr Fälle gegeben haben muss. Und so weiter und so fort. Hier ähnelt der Film einem anderen und einer darin verarbeiteten realen Geschichte, dem Fall McMartin: „Unter Anklage“ (USA, 1995).

Vinterberg konfrontiert uns mit „normalen Menschen wie du und ich“, die angesichts einer im Grunde trivialen Lüge eines Kindes, die als solche schnell hätte aufgedeckt werden können, zu Bestien werden, weil sie an etwas glauben wollen, ohne auch nur daran zu denken, dass es falsch sein könnte.

Und was, wenn Klara tatsächlich einem Missbrauch zum Opfer gefallen wäre, einem Täter hätte die Tat nachgewiesen werden können? Diese Frage stellt der Film nicht direkt, denn das ist nicht sein Thema. Aber man kann sich vorstellen, wie in einem solchen Fall Ähnliches passiert wäre wie 2012 in Emden (s. Zitat am Anfang).

Vinterberg drehte einen wichtigen Film, der uns daran erinnern sollte, wie schnell der Übergang von Normalität zum Bestialischen geschehen kann. Tatsächlich ist Klara am Schluss Opfer geworden – aber nicht Opfer ihrer unschuldigen Lüge, ihrer Kindlichkeit, nein, Opfer einer erwachsenen Welt, die sich teilweise jedenfalls dem Terror und der Ausgrenzung verschrieben hat.

(1) Handelsblatt vom 31.3.2013
(2) Kritik auf Filmstarts

(10 von 10 Punkten; 18.8.2013)