Die Klavierspielerin
Österreich, Frankreich 2001, 120 Minuten
Regie: Michael Haneke

Drehbuch: Michael Haneke, nach dem Roman von Elfriede Jelinek
Musik: Francis Haines
Director of Photography: Christian Berger
Montage: Nadine Muse, Monika Willi
Produktionsdesign: Christoph Kanter

Darsteller: Isabelle Huppert (Erika Kohut), Annie Girardot (Erikas Mutter), Benoît Magimel (Walter Klemmer), Susanne Lothar (Frau Schober), Udo Samel (Dr. Blonskij), Anna Sigalevitch (Anna Schober), Cornelia Köndgen (Frau Blonskij)

Abgründe ...

Als ich aus diesem Film, im wahrsten Sinn: aus dem Film, nicht aus dem Kino, herauskam, war mir zum Heulen. Michael Haneke, dessen Filme (z.B. „Funny Games“ oder „Code: Unbekannt“) immer umstritten waren – oft ein großer Vorteil ernster Filme –, mutete mir (und sicherlich vielen anderen) viel zu. Und trotzdem wusste man manchmal nicht so recht, ob man lachen oder weinen, erheitert oder entsetzt sein sollte. Ich war jedenfalls auf der Flucht, und doch noch im Film, denn nicht nur Frau Professor Erika Kohut (Isabelle Huppert), Klavierlehrerin am Wiener Konservatorium, sondern fast alle Personen in diesem Film leben in einer – zum guten Teil selbstgewählten – extremen und zugleich destruktiven Abhängigkeit, die manchmal humoristische Züge trägt, zum größten Teil aber tragische Aspekte eines Lebens und Lebenszusammenhangs offenbart.

Dabei gelingt es Haneke auf eine mir bisher nicht bekannte Art und Weise – und  vor allem der Huppert –, zugleich Mitgefühl mit den Personen und Ekel vor dieser Welt, die sie sich geschaffen haben, hervorzurufen.

Der Streifen, der auf einem gleichnamigen und wohl ebenso umstrittenen Buch Elfriede Jelineks beruht, handelt von der Wiener Klavierlehrerin Erika Kohut, die mit ihrer Mutter (Annie Girardot) in einer engen und beengten Wohnung lebt. Während Erika den ganzen Tag Klavierunterricht gibt, passt ihre Mutter auf sie (die um die 40 ist) wie auf ein kleines Kind auf. Überhaupt scheint es, als hätten sich Mutter und Tochter aus ihrer Rolle – besorgte Mutter bewacht Kleinkind – nie gelöst, hätte die Mutter-Tochter-Beziehung sich auf einem bestimmten Status verfestigt, keine Entwicklung mehr genommen. Für Erikas Mutter ist dieses Verhalten ebenso selbstverständlich wie für Erika, dass sie heimlich Pornokinos besucht und sich, während sie sich Blow-Jobs betrachtet, an benutzten Kleenex-Tüchern „erfreut“, oder neben einem kopulierenden Paar beim Autokino „vor Lust“ Wasser lässt.

Doch schon in diesen Szenen wird die anfänglich vermutete sadomasochistische Fährte, auf die der Film lockt, zweideutig, wenn man darunter lediglich sexuelle Obsession verstehen will. Es scheint, als wenn sich alle Personen dieses Films mehr oder weniger freiwillig in eine selbst gewählte Abhängigkeit begeben, so wie andere ihren Hobbys nachgehen, die als „normal“ gelten. Erika weiß genau, was sie tut. Sie will dieses Leben und macht keinerlei Anstalten, ihre Mutter zu verlassen, was sie finanziell durchaus könnte. Aber sie braucht ihre Mutter. Sie braucht den Ärger und Streit mit ihrer Mutter wie sie die gefühllose Kälte benötigt, die sie ihren Klavierschülern entgegenbringt, während sie gleichzeitig genau weiß, wie man Schubert zu spielen hat.

Nur eine ihrer Schülerinnen, die von deren Mutter mehr oder weniger gezwungen wird, eine „große Pianistin“ zu werden, verzweifelt fast an der Rolle, die sie nicht gewählt hat, in die sie andere hineinzwängen. Von der Mutter getriezt, von Erika getriezt, bleibt sie allerdings dennoch beim Klavierspielen.

Dann erscheint der junge Walter (Benoît Magimel), der sich in Erika verliebt. Die wiederum scheint ihn anfänglich abzuweisen, doch diese Abweisung ist kalkuliert. Nicht Liebe ist hier im Spiel, sondern Befriedigung ihrer Lebensart auch im sexuellen Bereich: Sie verlangt von Walter in einem furchtbar langen Brief sadistische Behandlung, Knebeln, Fesseln, Schläge. Sie will Opfer sein, so wie sie Täterin ist. Sie lehnt seine Zuneigung ab, wie sie seine Instrumentalisierung begehrt. „Ich habe keine Gefühle“, sagt sie zu ihm, „und wenn ich welche habe, dann siegt meine Intelligenz über sie.“

Sie will Walter für sich benutzen, und dabei ist ihr die genannte Klavierschülerin im Weg, die sie für eine potentielle Gefahr hält. Sie zerbricht ein Glas und schüttet die Scherben in deren Manteltasche. Die Schülerin verletzt sich derart die Hand, dass sie nicht mehr Klavier spielen kann. Der Mutter der Schülerin, die sich unter Tränen bei ihr darüber beklagt, dass ihre ganzen Pläne nun gescheitert seien, hält sie den Spiegel vor: Sie zwinge doch ihre Tochter in diese Rolle der potentiell erfolgreichen Pianisten, ihre Tochter opfere sich schließlich für ihre Pläne.

Auch an dieser Stelle des Films wird deutlich, dass Erika sich und Menschen, die andere in ähnlicher Weise instrumentalisieren, genau kennt. Ihre Klavierschülerin tut ihr alles andere als leid. Erika interessiert nur eines: sie selbst. Sie liebt sich nicht und sie hasst sich nicht. Sie will, dass andere und anderes für sie da ist.

Walter, zunächst entsetzt über Erikas Brief, hält sie für krank. Doch dann begibt er sich selbst in diese Welt der tragischen Abhängigkeiten: Erika kotzt, während sie mit ihm nach dem Eishockey-Spiel in einer Kabine oral verkehrt. Am Abend kommt Walter in ihre Wohnung, schließt Erikas Mutter ins Wohnzimmer ein und rächt sich: Er schlägt Erika brutal, zwingt sie zum Geschlechtsverkehr und lässt sie blutend am Boden liegen. Erika, die anstatt ihrer Schülerin an einem Musikabend Klavier spielen soll, packt ein langes Küchenmesser in ihre Handtasche. Im Konservatorium wartet sie auf Walter ...

Ist diese Geschichte realistisch? Ist sie ekelhaft? Ist sie absurd? Sarkastisch? Ein psychologisches Drama? Eine Tragikomödie? Eine Studie über Sadomasochismus?

Wohl von allem etwas und doch mehr. Wir alle leben in Abhängigkeiten, und teilweise wollen wir das auch oder können gar nicht ohne Abhängigkeiten leben. Doch in diesem Streifen geht es um eine Abhängigkeit, die sicherlich ihre Spuren aus der Vergangenheit bezieht, und doch selbstgewählte Lebensweise ist. Erika ist durchaus selbständig, aber das ist eine Art von Selbständigkeit, die dem Egozentrismus ganz nahe ist. Die Welt ist nur ihre Welt; sie gehört ihr – sonst niemandem. Sie benutzt andere und sich, sie ist im Grunde außer sich selbst und zugleich sie selbst. Sie zieht Walter, ohne dass dies ihm so richtig bewusst wird, in diesen Strudel hinein. Und Walter begibt sich in diese Welt, wenn er nicht schon vorher mit einem Bein darin war. Als sie mit ihrer Absicht, ihn zu funktionalisieren, scheitert, greift sie zum Messer.

Auch Walter benutzt sie. Anstatt sich von ihr fernzuhalten, kehrt er immer wieder zu ihr zurück. Er erkennt, dass Erika „krank“ ist, und doch begibt er sich immer wieder in diese Art von Abhängigkeit – bis er dementsprechend zuschlägt, den Spieß herumdreht und Erika für seine Zwecke missbraucht.

Der Film ist entsetzlich. Er stellt im übrigen auch in Frage, ob man Menschen, die sich einer solchen Lebensweise verschrieben haben, „heilen“ kann. Zumindest der Film (das Buch kenne ich noch nicht) zweifelt an psychoanalytischen Kategorien. Doch er ist nicht nur ernst, sondern auf eine furchbare Art humorvoll, weil er diese Abhängigkeiten überspitzt. Besonders Annie Girardot sorgt für diesen schrecklichen Humor. Die Huppert ist nicht wiederzuerkennen, heißt: sie gibt der Rolle der Erika eine derartige selbstverständliche Kühle, dass man wirklich glaubt, „Erika“ vor sich zu haben und nicht die Huppert. Schauspieler und Regisseur haben es vermocht, dem Film die naturalistische Härte zu verpassen, die der Geschichte durchaus angemessen ist.

Und trotzdem (oder gerade deswegen?) überwog (jedenfalls bei mir) am Schluss des Films das erschreckende Mitgefühl mit Erika, die auf eine ganz besondere Art und Weise verloren ist.


 

Die Klavierspielerin-Plakat
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