Die rote Laterne
(Da hong deng long gao gao gua)
China, Hongkong, Taiwan 1991, 125 Minuten
Regie: Zhang Yimou

Drehbuch: Zhen Ni, nach dem Roman von Tong Su
Musik: Naoki Tachikawa, Zhao Jiping
Director of Photography: Yang Lun, Zhao Fei
Montage: Du Yuan
Produktionsdesign: Cao Juiping

Darsteller: Gong Li (Songlian, die vierte Herrin), He Caifei (Meishan, die dritte Herrin), Cao Cuifen (Zhuoyan, die zweite Herrin), Ma Jingwu (der Herr), Zhao Qi (Haushälter), Shuyuan Jin (Yuru, die erste Herrin), Cui Zhihgang (Dr. Gao)

Gefangen und verstrickt ...

Songlians Mutter: „Rich man? If you marry
a rich man, you will only be his concubine.”
Songlian: „Let me be a concubine.
Isn't that the fate of a woman?”

Eine Welt in sich. Eine abgeschlossene Welt. Eine Welt der sozialen Inzucht. Nichts scheint von außen einzudringen, eindringen zu können. Das System funktioniert. Es reproduziert sich selbst, scheint sogar autopoietisch, d.h. sich selbst erzeugt zu haben – als wenn es nie etwas anderes gegeben hätte. Für die Beteiligten erscheint diese Welt quasi naturhaft, gottgegeben, was in diesem Fall – und vielen anderen – als synonym erscheinen muss. Das System dieser Welt ist genau beschreibbar – wie irgendein technisches System, ein Motor zum Beispiel oder eine Druckmaschine. Doch während bei solchen technischen Systemen Energie, also ein Input von außen, notwendig ist, um sie in Gang zu setzen, glaubt man (fast), dass diese Welt keines Einflusses von außen bedarf.

Eine Art Palast. Ein länglicher Hof, umgeben von einem Haus. Ein Ausgang nach draußen, den aber nur der Herr dieses Hauses benutzen darf, und die Bediensteten, um Dinge des täglichen Bedarfs zu besorgen. Etliche Türen führen auf den Hof. Die Räume, die dahinter liegen, sind nur vom Hof aus zugänglich. Hinter den Türen wohnen drei Frauen, die erste, zweite und die dritte Herrin (untereinander nennen sie sich Schwestern). Hinter den anderen Türen befinden sich die Schlafräume der Bediensteten. Die drei Herrinnen sind die Frauen des reichen und einflussreichen Hausherrn. Jeden Tag werden auf Geheiß des Herrn große rote Laternen angezündet. Vor wessen Tür eine solche Laterne angezündet wird, entscheidet darüber, bei welcher der drei Herrinnen der Herr die Nacht verbringen wird – ein Ritual der Macht. Bei der ersten Herrin war der Hausherr schon lange nicht mehr. Er wechselt zwischen der zweiten und der dritten Herrin. Die zweite Herrin scheint eine freundliche Frau mittleren Alters zu sein, immer lächelnd. Die dritte Herrin ist eine ehemalige Schauspielerin und Sängerin – und ab und an sieht man sie auf einem der Wege, die sich auf dem Dach des Gebäudekomplexes befinden, und singen.

Die junge Songlian (Gong Li) wird nach dem Tod ihres Vaters die vierte Frau des Herrn (Ma Jingwu). Eine Wahl – eine Wahl hat sie im Grunde nicht; denn das Studium, das sie begonnen hatte, kann ihre Mutter nun nicht mehr finanzieren. Nach und nach wird sie eingeführt in die Regeln dieser Welt – die roten Laternen und was sie bedeuten. Sie wird der ersten Frau vorgestellt, die vom Herrn nicht mehr besucht wird und sich damit abgefunden hat, der zweiten Frau, die sie freundlich begrüßt. Die dritte Frau geht ihr aus dem Weg, scheint Songlian zu missachten. Denn der Herr verbringt zunächst jede weitere Nacht bei seiner neuen Frau. Die Herrinnen können sich frei bewegen – im Haus wohlgemerkt. Sie erhalten jeden Wunsch erfüllt, sind gut versorgt mit allem, was sich der Herr leisten kann – und er kann sich alles leisten.

Zhang Yimou („Happy Times”, 2000; „Hero”, 2002) zeigt uns ein geschlossenes System, ja, eine von der Außenwelt fast vollständig abgeschottete Welt, ein System mit einer niedrigen Komplexität, stabil, offenbar autark, weil Einflüsse von außen nicht sichtbar sind, zeitinvariant, weil das System sich nicht zu ändern scheint, autonom, weil es durch Veränderungen der Umwelt nicht abhängig zu sein scheint – ein System, was sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren, ja, was sich selbst geschaffen zu haben scheint. Dieser Schein trügt nur zum Teil. Der Regisseur zeigt uns ein totalitäres System. Der Film spielt in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, d.h. in einer halb feudalen, halb schon vom Geldkapital manipulierten chinesischen Gesellschaft. Die Traditionen sind handfest und fast unerschütterlich. Die Relationen zwischen den Handelnden scheinen fest, unveränderbar. Die Freiheit der drei Herrinnen besteht nur in bezug auf das Diktat des Systems, d.h. des Hausherrn, den wir im Film insgesamt nur schemenhaft zu sehen bekommen; lediglich seine Stimme ist vernehmbar. Die Frauen existieren hier nicht unter ihrem wirklichen Namen, sondern nur als erste, zweite, dritte und vierte Frau respektive Herrin – also in ihrer Systemfunktion. Ihre Freiheit ist ein Trugbild des Systems.

Zunächst ist Songlian verwirrt, empört, unwissend, verzweifelt – alles zugleich. Sie muss lernen. Und es ist eine Eigenschaft auch totalitärer Regimes, dass sie selbstreferentiell sind, d.h. ihre eigenen Informationen erzeugen, die die Akteure aufnehmen müssen, weil sie keine anderen Informationen erhalten. Der Lernprozess begrenzt sich in solchen Systemen auf die Informationsgewinnung, die ihnen das System zur Verfügung stellt: herrschaftsstabilisierende Informationen.

Das relativ einfach zu durchschauende System im Haus hat Songlian bald begriffen. Die Kennzeichnung erste, zweite, dritte, vierte Frau bezieht sich ausschließlich auf die zeitliche Reihenfolge ihrer Heirat mit dem Herrn, aber nicht auf die hierarchische Stellung im Haus. Entscheidend für das Ansehen jeder Herrin ist die Frage, wie oft in welchen Zeiträumen der Herr bei einer von ihnen schläft. Songlian, die gegenüber den anderen Frauen wesentlich jüngere, ist für den Herrn zunächst jedenfalls diejenige, bei der er die meisten Nächte verbringt. Probleme, die eine der Frauen macht, ahndet der Herr damit, dass er am folgenden Tag die rote Laterne bei einer der beiden anderen Frauen platzieren lässt. Die erste Frau, die bereits wesentlich älter ist als die anderen, gehört bereits einer Art Altenteil an. Sie ist sozial ausrangiert, wird aber nicht vertrieben, ausgegrenzt oder diskriminiert. Sie darf bis zu ihrem Tode im Haus bleiben, ist versorgt – auf dem Abstellgleis einer furchtbaren Diktatur.

Zunächst hält Songlian die dritte Frau, die Sängerin, für die einzige problematische der anderen Frauen. Doch bald muss sie feststellen, dass das Beziehungsgeflecht in dieser Welt nicht nur durch das Diktat des Herrn bestimmt ist. Unterhalb dieser primären Ebene, der uneingeschränkten Herrschaft, hat sich ein Gespinst der Intrige, des Verrats, der Lüge und der Maskerade entwickelt. Ihre eigene Bedienstete beispielsweise ist eine Art Agentin der zweiten Herrin, die ihr vordergründig freundlich begegnet, doch in Wirklichkeit im Ränkespiel des Systems den ersten Platz erobern will.

Immer weitgehender verstrickt sich Songlian in diese Intrigen, ohne zu merken, dass sie selbst sich zu einer Intrigantin entwickelt und was dies bedeutet: die Reproduktion des Systems. Als sie bemerkt, dass ihre eigene Bedienstete in ihrem Schlafraum rote Laternen aufgestellt hat – was verboten ist –, verrät sie dies – und die Bedienstete wird bestraft. Songlian verrät ihre Dienerin, weil sie weiß, dass der Herr ab und an auch mit der Dienerin Sex hatte. Zugleich ist ihre Dienerin aber auch Spitzel der zweiten Herrin – die nun erst recht versucht, gegen Songlian eine Intrige zu spinnen.

Es kommt schlimmer. Songlian – inzwischen voll integriert in das System von Diktatur und Korruption – verrät im verzweifelten Alkoholrausch, dass die dritte Frau ein heimliches Verhältnis mit dem Arzt des Hauses hat. Die Strafe für die dritte Frau ist furchtbar ...

Zhang Yimous Film, der eine Zeitlang in China verboten war, weil die Machthaber in ihm (zu Recht) eine versteckte Kritik am eigenen totalitären Regime vermuteten, zeigt eine in sich abgeschottete Welt der Diktatur. Die Totalität der Beziehungen in dieser Welt wird durch die Totalität der Macht des Herrn bestimmt. Die Beziehungen in dieser filmischen Welt sind relativ einfach gestaltet, und Zhang Yimou versucht zu „ermitteln”, wie sich ein freiheitsliebendes Individuum, das in diese Welt geworfen wird, darin zurechtfinden kann. Songlian versucht zunächst, unter Ausnutzung aller Informationen, die sie erhält, gegen diese Welt zu rebellieren. Doch schon bald wandelt sich diese Rebellion in einen Kampf um ihre eigene Position in dieser Welt. Sie gaukelt dem Hausherrn und den anderen Frauen und Bediensteten vor, schwanger zu sein – denn sie weiß, welchen Stellenwert es hat, wenn sie dem Herrn einen Sohn schenken würde. Mädchen gelten als wertlos. Bereits in diesem Akt ist die Rebellion erstickt. Denn sie hat hiermit bereits the rules of the system akzeptiert, ja verinnerlicht. Der innere Kampf zwischen Rebellion und Teilhabe am System deutete sich bereits in den Worten (zu ihrer Mutter nach dem Tod des Vaters zu Anfang der Geschichte) an: Ob es nicht das Schicksal von Frauen sei, Konkubinen zu werden.

Zhang benennt aber nicht nur die Komponenten eines solch (scheinbar) autonomen totalitären Systems. Er zeigt sie bildgewaltig, und er zeigt, in welcher Stille sich das System letztlich reproduziert und welche tödlichen Strafen es für die vorsieht, die nicht nur gegen es rebellieren, sondern entscheidende Regeln verletzen.

Dass „Die rote Laterne” eine versteckte Kritik am totalitären chinesischen Regime (und darüber hinaus an jedem Totalitarismus) darstellt, kann man schlichtweg nicht bezweifeln. Die herrschende Nomenklatura – die hier nur in einer Person repräsentiert ist, die Zhang Yimou zudem nur schemenhaft zeigt, weil sich in ihr „lediglich” das System darstellt – hat unbegrenzte Macht. Je mehr Macht aber in den Händen weniger geballt auftritt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass auf den nachfolgenden streng hierarchischen Ebenen versucht wird, möglichst viel Teilhabe an der Macht zu erhalten. Auf der mittleren Ebene der vier Frauen sind es die Intrige, die Korruption, der Verrat, die Lüge und die Maskerade als Mittel der Ausschaltung der Konkurrenz. Hierin liegt – in einem auf eine Gesamtgesellschaft übertragenen Sinn – auch der Grund der auf lange Sicht sich breit machenden Ineffektivität eines solchen totalitären Regimes. Denn diese Mittel der Intrige usw. bremsen das System aus, weil nicht mehr die Reproduktion des Systems im Vordergrund steht, sondern der jeweils persönliche Vorteil. In einem Subsystem wie im Film fällt dies deshalb nicht ins Gewicht, weil hier die Nachteile kompensiert werden können: Fällt eine Frau aus – etwa die dritte Frau, deren Verhältnis mit dem Arzt brutal bestraft wird – oder endet eine Rebellin, die das Scheitern ihrer Rebellion kaum verkraften kann, im Wahnsinn, wird von außen „Energie” zugeführt: eine fünfte Frau ersetzt den Verlust. Das System reproduziert sich wieder selbst.

Man kann hier auch plastisch sehen, wie schwierig sich die innere Auflösung solcher totalitärer Systeme (und auch Subsysteme) darstellt. Die Ereignisse nach dem Zerfall der realsozialistischen Staaten deuten aber darauf hin, dass sie weniger am inneren Widerstand ihrer Gegner zugrunde gegangen sind denn an den zerreißerischen Machtkämpfen der mittleren Hierarchieebenen, die den ökonomischen Verfall exponentiell beschleunigten. Aber das nur nebenbei. Zhang Yimous „Die rote Laterne” ist nicht nur ein blendend und in beeindruckenden Bildern (und Farben) inszeniertes Drama mit mehr oder weniger deutlich versteckter Kritik am chinesischen Imperium. Der Film zeigt vor allem auch die schwierige Situation von Menschen – hier v.a. von Frauen –, die sich innerhalb einer solchen Machtarchitektur bewegen müssen.

Songlian, die irgendwann selbst die Regeln des Systems anwendet, ist in erster Linie nicht eine bösartige Intrigantin, sondern tragische Figur in einem barbarischen Spiel.

© Bilder: MGM.
Screenshots von der DVD.
(17. Oktober 2007)