Die Stille nach dem Schuss
(US-Titel: The Legend of Rita )
Deutschland 2000, 103 Minuten
Regie: Volker Schlöndorff

Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Volker Schlöndorff
Director of Photography: Andreas Höfer
Montage: Peter Przygodda
Produktionsdesign: Susanne Hopf

Darsteller: Bibiana Beglau (Rita), Richard Kropf (Milchgesicht), Martin Wuttke (Erwin Hull), Nadja Uhl (Tatjana), Harald Schrott (Andreas „Andi” Klein), Alexander Beyer (Jochen Plattka), Jenny Schilly (Friederike), Mario Irrek (Klatte), Thomas Arnold (Gerngroß), Franca Kastein (Anna), Dietrich Körner (General), Alexander Hosfeld (Gruber), Rudolf Donath (Tatjanas Vater), Monika Pietsch (Tatjanas Mutter)

Da schweigt des Sängers Höflichkeit

„Protest ist, wenn ich sage das oder das
passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich
dafür sorge, dass das, was mir nicht passt,
nicht länger geschieht.”
(Ulrike Meinhof)

„Wer auf jemanden zielt, vergewissere sich,
ob er nicht vor einem Spiegel steht.”
(Walter Ludin) (2)

Märchen sind etwas Schönes, Geschichtsklitterung etwas Hässliches. Die Phantasie eines Regisseurs wie Rainer Werner Fassbinder hatte nie etwas Beschönigendes oder Diffamierendes, wenn es um die Sicht auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, den Nationalsozialismus oder die von ihm nicht sehr geschätzten bewaffneten Einheiten der westdeutschen Guerilla ging. Fassbinder setzte auf Durch-Blick, auf das Hindurch-Blicken durch die Oberfläche dessen, was sich im Alltagsbewusstsein festgesetzt oder durch Verdrängung respektive Verleugnung in den Köpfen geradezu vernagelt und verknotet hatte. Fassbinder erzählte Geschichten, die nicht unbedingt das Leben schrieb, aber geschrieben haben könnte. Und er erzählte diese Geschichten in einer verbindlichen, das heißt auch: Verbindung (nämlich zum Publikum) suchenden Art und Weise.

Die Geschichte der „Roten Armee Fraktion” (RAF) eignet sich kaum dafür, in Klischees und Vorurteilen einer Verwässerung zugeführt zu werden, an deren Ende absolute Wahrheiten – die dann auch für Schulbücher geeignet wären – felsenfest in der Brandung, sprich im so genannten öffentlichen Bewusstsein, stehen. Trotzdem wird dies betrieben – von rechts wie von links, von Alt-Linken wie von Neu-Rechten, von Kanzlern und Möchtegern-Kanzlern, von Intellektuellen und Medien. Terrorismus – das ist schon lange nicht mehr auch nur ein Stiefkind der bundesdeutschen Gesellschaft. Kampf gegen Terrorismus ist der Slogan, der einen anderen abgelöst hat: Kampf gegen den Kommunismus. Das neue Feindbild wirkt wie die alten. Man kann alles auf es projizieren, was „schief läuft”, das Böse schlechthin usw. Dies gilt nach innen wie nach außen. Kaum einer wagt es, die These zu vertreten, das Phänomen des Terrorismus, des „bewaffneten Guerillakampfes in den Metropolen”, der RAF, des Fundamentalismus in all seinen Schattierungen usw. als Teil der EIGENEN Geschichte zu begreifen und entsprechend damit umzugehen. Da verhält es sich so wie mit den braunen Männchen, die 1933 vom Himmel gefallen sind und 1945 spurlos verschwanden. Solche brutalen Erscheinungen entstehen offenbar – zumindest im so genannten öffentlichen und medial gesteuerten Bewusstsein – wie aus dem Nichts. Und wenn ein amerikanischer Wissenschaftler behauptet, der autoritäre Charakter der Deutschen vor 1933 habe maßgeblich mit dem Aufstieg Hitlers zu tun, geht nicht nur ein Raunen durch universitäre Räume und mediale Institutionen – obwohl dieser Mann (wenn auch vielleicht nicht in allen Punkten) so recht hatte.

Erinnert sich noch jemand an seinen Namen? Goldhagen heißt der Mann.

Die RAF ohne die Geschichte und Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland begreifen zu wollen, grenzt an Harakiri. Ein solches Unverständnis blendet aus, und man kommt sich vor wie bei Prokrustes, der seine Gäste maßgerecht zurecht stutzte. Dabei ist es gerade „das Normale”, das „Selbstverständliche” bzw. das, was für dafür halten, was uns den wirklichen und aufklärischen Zugang zu Phänomenen wie der RAF versperrt.

Volker Schlöndorff, bekannt v.a. durch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum, oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann” (1975) oder „Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach” (1971), nahm sich 2000 derjenigen RAF-Mitglieder der zweiten oder dritten Generation der RAF an, die in der DDR bis 1989 Unterschlupf gefunden hatten. Gut recherchiert soll der Film sein, in dessen Mittelpunkt das (fiktive) RAF-Mitglied Rita (Bibiana Beglau) steht.

Doch schon der Beginn des Films lässt nichts Gutes erwarten. Zuerst präsentiert uns Schlöndorff einen Banküberfall, bei dem flotte Sprüche gegen den Kapitalismus geklopft werden. Danach schenkt Rita einem Bettler das erbeutete Münzgeld. Die RAF oder wen die Figuren im Film auch immer repräsentieren sollen, erscheinen wie Lebemänner und -frauen mit großer Klappe und nichts dahinter. Dann: Rita, Friederike (Jenny Schilly) und zwei andere RAF’ler nehmen den Besuch des inhaftierten Gesinnungsgenossen Andreas Klein (Harald Schrott) durch den Anwalt Gruber (Alexander Hosfeld) zum Anlass für eine Gefangenenbefreiung, bei der Klein befreit und Gruber getötet wird. Das alles ist nicht nur dilettantisch inszeniert; die Aktion selbst wirkt dilettantisch. Man spaziert, ohne kontrolliert zu werden, in ein Gefängnis und schmuggelt eine Waffe hinein. Im VW-Bus flieht man vor der Polizei, und kurz darauf übertritt man den Grenzübergang in Berlin, wo ein sympathischer Stasi-Genosse namens Erwin Hull (Martin Wuttke) auf die Möglichkeit verweist, in der DDR unterzutauchen.

Nach einem Zwischenspiel in Paris, wo mal eben so nebenbei ein Polizist auf dem Motorrad erschossen wird, entscheidet sich die Gruppe, in die DDR zu gehen. Wodka, platte realsozialistische Sprüche, eine nette kleine Abgrenzung der Stasi-Mannen vom Terrorismus bei gleichzeitig verkündeter ideologischer Übereinstimmung in den Zielen mit der Gruppe aus dem Westen, kleinbürgerliche Idylle à la DDR-Obere (oder das, was viele dafür halten) wechseln sich ab mit Langeweile und Enttäuschung darüber, dass man wohl vorerst nicht in den Westen zurück kann.

Hull und sein Vorgesetzter, ein General (Dietrich Körner), besorgen den Versteckten Tickets Richtung Palästina. Eigentlich wollten sie nach Angola oder Mosambik. Aber Hull macht ihnen klar, dort würden sie als Weiße unter lauter Schwarzen auffallen. Ich fass es nicht!

Rita allerdings will in der DDR bleiben. Sie erhält eine neue Identität samt Familiengeschichte und arbeitet fortan an der Seite der Arbeiterklasse am Aufbau des Sozialismus, zuerst in einem Textilbetrieb; später, als sie von irgendeiner Kollegin im Westfernsehen auf einem Fahndungsplakat wiedererkannt wurde, erhält Rita eine neue Identität plus Brille mit Fensterglas und darf sich u.a. fortan mit Kindern an der Ostsee in den Betriebsferien beschäftigen (eine kurze, aber heftige Liebelei mit einem echten DDR’ler sowie eine Auszeichnungsurkunde für sozialistische Arbeit eingeschlossen).

So läppert der Film mir nichts, dir nichts über gut 100 Minuten über die Leinwand dahin – und man fragt sich, was das alles eigentlich soll. Rita ist nett, auch wenn ihre revolutionären Parolen sich eher anhören wie platte Werbung aus den 50ern, die für die 90er wiederaufbereitet wurde, nett, auch wenn sie hier und da schon mal einen umgelegt hat. Was soll’s? Das kommt in jedem guten oder weniger guten Thriller vor. Doch Schlöndorffs Streifen taugt nicht einmal für einen schlechten Thriller. Voll gepackt mit den gängigen Klischees über Stasi, RAF, private Idylle im DDR-eigenen Schrebergarten, Hinterhof oder an der Ostsee, verkürzten und fast immer am falschen Ort angebrachten RAF-Parolen sammelten er und Drehbuchautor Kohlhaase so ziemlich alles, was man schon weiß oder wovon man eigentlich gar nichts wissen will.

Nicht einmal die Freundschaft Ritas mit der alkoholabhängigen Kollegin Tatjana (Nadja Uhl – die einzige, die schauspielerisch zu überzeugen weiß) riss mich vom Hocker. Die eine denkt – so der Plot –, die DDR sei doch zumindest ein Versuch, endlich den Sozialismus aufzubauen (Zitat: endlich eine Gesellschaft, wo das Geld nicht die Hauptsache spielt - wenn das aus dem Mund eines RAF-Mitglieds stammt, fress ich einen Besen), die andere ersäuft ihre Unzufriedenheit und Depressionen im exzessiven Alkoholgenuss – und dann kommt es auch beinahe noch zum Sex zwischen den beiden. Aber eben nur beinahe – wie alles in diesem Film.

Noch nicht einmal dieses „Beinahe” erreicht Schlöndorff. Denn er erzählt NICHTS über die Geschichte der RAF oder einzelner Mitglieder, sondern kolportiert mit Hilfe von Versatzstücken einen Abschnitt der bundesdeutschen respektive DDR-Geschichte, wie er sich in der bunten Einfalt der vielfältigen Regenbogenpresse nicht besser hätte manifestieren können. Mich wundert es nicht, dass ein Ex-RAF-Mitglied wie Inge Vieth Schlöndorff nicht nur die Zusammenarbeit verweigerte, sondern ihn wegen Verwendung von Motiven ihrer eigenen Autobiographie für die Figur der Rita verklagte.

Nicht nur die mehr als dämliche Anfangsszenerie mit Banküberfall und Gefangenenbefreiung, auch die mehr als unglaubwürdige Voll-Integration der Rita in den DDR-Alltag zwischen VEB Modedruck und Parolen auf den Sozialismus, Einheitsschrankwänden und Ostsee-Betriebskindergärten-Ferien lässt einem die Haare zu Berge stehen. Allenfalls könnte man noch vermuten, Schlöndorff und Kohlhaase wollten das Bedürfnis der Rita nach Normalität visualisieren. Doch diese Vermutung steht in den Sternen, nicht im Film. Die einzige Szene, in der dieser Wunsch psychologisch überzeugend dargestellt wird, zeigt ein Betriebsfest: „Life is Life” wird gespielt und Rita und die schon besoffene Tatjana tanzen ausgelassen und wild. Das war’s.

Es wundert dann kaum noch, dass nach der Öffnung der Grenzen 1989 Rita keinen anderen Ausweg weiß, als mit einem gestohlenen Motorrad zu versuchen, die Grenze zu passieren. Dass sie dabei erschossen wird – ausgerechnet von DDR-Grenzbeamten – ist nicht irgendeiner Ironie der Geschichte zu verdanken, sondern einem der schlechtesten Drehbücher, die es gibt. Nicht einmal hier am Schluss entsteht so etwas wie Identifizierung, Warmwerden mit der Figur der Rita oder ähnliches. Die Szene hat nur einen Sinn: Sie beendet den Film.

Ehrlich gesagt kann ich nicht verstehen, was Schlöndorff zu dieser Inszenierung getrieben hat. Dabei hätte es Ansatzpunkte noch und noch gegeben, sich diesem Abschnitt der deutschen Geschichte in aufklärerischer Absicht zu nähern.

Wenn Ulrike Meinhof sagte: „Protest ist, wenn ich sage das oder das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht”, dann steckt in diesen Worten (von vielen immer wieder zitiert) so viel Sprengstoff in bezug auf ein Verständnis der RAF und eben auch der Bundesrepublik Deutschland, dass man hundert Geschichten darüber schreiben oder auch filmen könnte. Schlöndorff hat mit „Die Stille nach dem Schuss” eine solche Gelegenheit verpasst.

(1) Ulrike Meinhof: Dokumente einer Rebellion, Hamburg 1972, S.81
(2) Walter Ludin, (*1945), Schweizer Journalist, Redakteur, Aphoristiker und Buchautor.