Elementarteilchen
Deutschland 2006, Minuten
Regie: Oskar Roehler

Drehbuch: Oskar Roehler, nach dem Roman von Michel Houellebecq
Director of Photography: Carl Friedrich Koschnick
Montage: Peter R. Adam
Produktionsdesign: Ingrid Henn

Darsteller: Moritz Bleibtreu (Bruno), Christian Ulmen (Michael), Martina Gedeck (Christiane), Franka Potente (Annabelle), Nina Hoss (Jane), Michael Gwisdek (Prof. Fleißer), Corinna Harfouch (Dr. Schäfer), Ulrike Kriener (Annabelles Mutter), Uwe Ochsenknecht (Brunos Vater), Tom Schilling (Michael, jung), Thomas Drechsel (Bruno, jung)

„It's All Over Now, Baby Blue”


„Dadurch, dass wir das verwandtschaftliche
Band, das uns an die Menschheit fesselte,
zerrissen haben, leben wir. Dem Urteil
der Menschen zufolge leben wir glücklich;
allerdings haben wir es auch verstanden,
die für sie unüberwindlichen Kräfte des
Egoismus, der Grausamkeit und der Wut
zu bezwingen; wir führen ohnehin ein
anderes Leben. Die Wissenschaft und die
Kunst sind weiterhin Bestandteil unserer
Gesellschaft; aber die Suche nach dem
Wahren und dem Schönen besitzt, da sie
nicht mehr so stark durch den Stachel der
individuellen Eitelkeit angespornt wird,
einen weniger dringlichen Charakter. Auf
die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt
unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt
im übrigen vor, dass wir uns selbst – wenn
auch mit einer Spur von Humor – mit dem
Namen ‚Götter’ bezeichnen, der so viele
Träume bei ihnen ausgelöst hat.” (1)


„The end is important in all things”, könnte man Jim Jarmuschs „Ghost Dog” zitieren. Denn erst am Ende von Houellebecqs Roman „Elementarteilchen” erfährt man, dass seine Geschichte von einem Post-Menschen erzählt wird, einem Klon, weil zu jener Zeit die Menschheit, wie wir sie kennen, kaum noch existiert, und sich die Post-Menschen durch Klonierung statt durch sexuelle Fortpflanzung reproduzieren – Post-Menschen, die den Individualismus, den Hass, die Eitelkeit und den Egoismus so gut wie überwunden haben. So jedenfalls endet Houellebecqs Roman.

Nun hat es mich erwischt, mich, der immer davon geschrieben hat, dass Literatur und Film unterschiedlichen Regeln folgen und deshalb kaum miteinander verglichen werden können. Dabei bleibt es auch. Aber angesichts des Rummels, der um Oskar Roehlers Adaption des Romans von Houellebecq gemacht wurde, einen Roman, den ich liebe, musste ich mir – gestraft allerdings bereits durch Roehlers früheren Film „Der alte Affe Angst” – diesen Film anschauen. Und zu meiner Entschuldigung muss ich gestehen, dass ich diese Rezension nicht anders verfassen konnte als durch einen Rekurs auf den Roman selbst. Denn in diesem Fall – um es vorwegzunehmen – hat ein Film leider den Roman und seine Intentionen fast vollständig verhunzt.


EIN LANGE VORBEMERKUNG ALSO:
DER ROMAN

Houellebecqs Roman, der die Leserschaft und vor allem die Kritik in fanatische Anhänger und fanatische Gegner spaltete, erzählt die Geschichte zweier scheinbar völlig unterschiedlicher Halbbrüder,

  • die von Bruno, der Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als Lehrer tätig ist und der nichts anderes im Kopf hat als: Sex – der ständig, auch an den „unmöglichsten” Orten onaniert, einen Großteil seines Geldes für Prostituierte ausgibt, der nur „junges Fleisch” wirklich begehrt, den Penetration nicht scharf macht, der „Tittenficks” will, die er aber nicht bekommt, der seine „vulgäre” Sprache seinen „abstrusen” Bedürfnissen angepasst hat (und hier hält sich Houellebecq wahrlich nicht zurück, auch nicht in der Beschreibung von Frauen durch Bruno) – and so on;
     
  • und die von Michel, ebenfalls zu dieser Zeit um die 40 Jahre alt, Biogenetiker, der noch nie Sex hatte, völlig unfähig zu Sex ist, und von einer neuen Rasse träumt, einer Rasse nach dem Menschen, Michel, ein – trotz seiner Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes a-sozialer Mensch.

Beide sind Söhne einer sex- und lebenshungrigen Frau, die sich um 1968 herum in aller Herren Länder, in Kommunen und weiß der Teufel sonst wo, herumtreibt und ihre beiden Söhne vor langer Zeit verlassen hatte. Sie wuchsen bei den Müttern ihrer Väter auf. Bruno wie Michel sind völlig gefangen in ihrer Einsamkeit, in ihrer A-Sozialität, und selbst ihre Beziehungen zu zwei Frauen, die sie kennen lernen bzw. wiedersehen, enden mit dem Tod dieser Frauen – wie überhaupt im Roman Frauen sterben „wie die Fliegen”. Während Bruno schließlich in der Psychiatrie endet und dort den Rest seines Lebens verbringt, entwickelt Michel seinen Traum vom Post-Menschen weiter – und man setzt ihn in die Tat um.

Houellebecqs Roman ist durchzogen von Zynismus, philosophischen Überlegungen, die aber nicht unbedingt weiter verfolgt werden, Männern, die auf der ganzen Linie versagen, und, wie gesagt, Frauen, die sterben. Seine Gegner warfen ihm vor: Faschismus, Frauenfeindlichkeit, Konservatismus, reaktionäres Gedankengut auf der ganzen Linie etc. pp. Aber im Grunde verwechseln sie hier seine Darstellung entlang der Geschichte der beiden Brüder mit dem, was der Roman eigentlich will. „Elementarteilchen” ist eine sehr eigenwillige, aber eben auch sehr tiefgründige Kritik an der Zivilisation Ende des 20. Jahrhunderts, und auch eine stark autobiografisch gefärbte Kritik, denn Houellebecq selbst hatte wohl eine Mutter wie die beiden Brüder im Film. Zentral für mich war dabei vor allem, dass Houellebecq entlang der Charakterstudien zu Bruno und Michel etwas aufzeigte, was ich die Eliminierung des Weiblichen durch die Art und Weise unserer Zivilisation nennen würde – des Weiblichen nicht primär im Sinne des Geschlechts, sondern vor allem im Sinne einer Art System, eines systematischen Denkens, Fühlens und Handelns.

Die amerikanische Psychotherapeutin Anne Wilson Schaef (2) unterscheidet z.B. in ihrem Buch „Weibliche Wirklichkeit” zwei existierende Systeme: das „White Male System” (WMS), das sie v.a. auch mit der weißen Rasse identifiziert, und das „Weibliche System” (WS). Kurz gesagt, unterscheiden sich beide Systeme z.B. dadurch, dass im WMS alles ziel- und erfolgsorientiert ist, also im wesentlichen nach dem Prinzip: Der Zweck heiligt die Mittel funktioniert, während im WS alles prozessorientiert ist, d.h. Ziele sich durchaus im Verlauf eines Prozesses ändern können. Während im WMS die gesamte Wirklichkeit sexualisiert wird, stellt im WS Sexualität nur ein Kriterium neben vielen anderen dar, das aber nicht dazu dient, die Wirklichkeit zu beurteilen. Diese Systematik dient u.a. auch dazu, Gesellschaft bzw. ihre Funktionsweise besser zu verstehen. Natürlich findet man das WS eher bei Frauen und das WMS eher bei Männern. Aber beide Systeme sind trotzdem nicht ausschließlich geschlechtsspezifisch zu verstehen. So gibt es sowohl Frauen, die im Denken und Fühlen eher dem WMS zuneigen, als auch (wenn vielleicht auch wenige) Männer, die dem WS eher „zugetan” sind. Die Systeme sollen eher unterschiedliche Sichtweisen, Gefühlslagen, Beurteilungen beschreiben, mit denen Menschen ihre Leben bewältigen bzw. die Wirklichkeit sehen und ihre Mitmenschen behandeln.

Wenn Houellebecq in seinem Roman Frauen vor allem über Bruno abschätzig beschreiben lässt und wenn er im Roman letztendlich alle Frauen – Annabelle, beider Mutter, die Großmütter, Christiane – sterben lässt usw., so ist dies nicht Ausdruck von Frauenhass des Autors, sondern der von Houellebecq konstatierte oder prognostizierte Niedergang, ja die Niederlage des im obigen Sinn in etwa skizzierten Weiblichen im gesellschaftlichen Kontext. Das Libertinäre im Verhalten von Brunos und Michels Mutter etwa ist so als eine Art Kapitulation vor dem Weiblichen und Unterwerfung unter das WMS zu verstehen. Das System fördert das Libertinäre – bis hin in die Werbung – und beider Mutter hat sich dem ergeben, indem sie sich wahllos Männern hingibt, um dadurch angeblich ihr Selbst zu finden.

Dass Bruno in der Psychiatrie endet und Michel im geklonten Post-Menschen die einzige Alternative sieht, ist daher nur konsequent. Während der eine vor dem libertinären und zugleich (!) autoritären System kapituliert, beseitigt es der andere konsequent im Sinne der Prinzipien dieses System, die er nur zu Ende denkt. Das Libertinäre lässt das System nur konform und für den einzelnen gelten, selbst ist das System autoritär bis in die Knochen und wird von den Prinzipien des WMS beherrscht. Es stört weder das ökonomische, noch das politische System, dass in privaten Beziehungen das Libertinäre als etwas eingedrungen ist, das angeblich der Individualität förderlich ist.

Ich kann hier auf verschiedene andere Elemente der Zivilisationskritik Houellebecqs nicht eingehen. Für mich ist „Elementarteilchen” jedenfalls ein großartiger, zynischer, aber zugleich eben doch von Liebe geprägter Roman eines Outsiders der Literatur, der die Mechanismen unserer Gesellschaft auf eine ihm eigene, aber eben doch erstaunliche Art und Weise zu beschreiben versteht.


WAS MACHT ROEHLERS FILM DARAUS?


„Die Geschichte existiert; sie zwingt sich auf,
beherrscht die Welt, ihr Reich ist
unausweichlich. Aber über die streng
historische Intention hinaus besteht das
eigentliche Bestreben dieses Buches darin,
jene leidgeprüfte, mutige Spezies, die uns
geschaffen hat, zu ehren. Jene schmerzbeladene,
nichtswürdige Spezies, die sich kaum vom
Affen unterschied und dennoch so viele
edle Ziele angestrebt hat. Jene gequälte,
widersprüchliche, individualistische,
streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem
Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen
unerhörter Gewalt fähig war, aber nie
aufgehört hat, an die Güte und an die
Liebe zu glauben.” (1)


Nichts – könnte man sagen. Etwas ganz anderes – könnte man auch sagen. Ich will nicht darüber spekulieren, ob die Tatsache, dass Bernd Eichinger diesen Film produzierte, mehr oder weniger großen Einfluss auf die Inszenierung hatte. Jedenfalls, um es kurz vorwegzunehmen: von alldem, was bei Houellebecq – man mag seinen Roman nun mögen oder nicht – an Zivilisationskritik, an Zynismus, an unbezwingbarem Genuss (jedenfalls für mich) usw. aufscheint, ist nichts, aber auch gar nichts geblieben.

Im Gegenteil. Roehler erzählt nicht einmal. Er schnipselt. Er setzt einzelne Szenen zusammen, ohne dass wirklich Zusammenhang entsteht. Bruno ist nichts weiter als ein 40jähriger (im Film vielleicht etwas jüngerer) von Sex besessener Lehrer, der irgendwann auf Christiane (Martina Gedeck) trifft und sich mit ihr in Swingerclubs herumtreibt, wo sie sich gegenseitig beim Sex mit anderen zuschauen. Michel ist nichts weiter als ein menschenscheuer Wissenschaftler, der wenig spricht, ab und an seinem Bruder und dessen Klagen zuhört und irgendwann seine Jugendliebe Annabelle (Franka Potente) wieder trifft, die ihm zum ersten Sex verhilft, und sie schließlich mit nach Irland nimmt, um dort seine Experimente fortzuführen. Beider Mutter, gespielt von Nina Hoss, ist irgendeine x-beliebige Frau, die sich eben in der Welt herumtreibt. Das ist zwar alles dem Roman entnommen, aber trotzdem fehlt diesen Figuren des Films jegliche charakterliche Tiefe – auch wenn sich Bleibtreu und Ulmen noch so sehr anstrengen –, und fehlt all diesen Szenen jeglicher Zusammenhang, jegliche dramatische Größe.

„Dem Roman entnommen” bedeutet in diesem Fall: Man greife sich einzelne Sequenzen aus dem Roman heraus, schnipple sie aneinander und hoffe, dass daraus so etwas wird wie eine Geschichte. Übrig geblieben ist jedoch nichts anderes als eine in weiten Teilen belanglose Aneinanderreihung von Episoden und Episödchen, die teilweise eher an eine mittelmäßige Fernsehproduktion erinnern und sich zuweilen in den Niederungen billiger Komödienspäßchen bewegen.

Man kann das auch unter dem Begriff Konventionalisierung fassen. Nur einige Beispiele:

  • Der Besuch Brunos bei seinem Vater (Uwe Ochsenknecht). Ochsenknecht spielt einen versoffenen alten Mann, der kein Geld hat und seinen Sohn um solches anbettelt. Ansonsten präsentiert Ochsenknecht in den Dialogen des Vaters nichts anderes als ein paar Klischees zu einem Alkoholiker, die man sattsam aus vielen TV-Fernsehspielen kennt. Aus.
     
  • Bruno setzt sich im ansonsten leeren Klassenzimmer zu einer Schülerin, legt ihr die Hände auf die Beine und wird sanft, aber bestimmt zurückgewiesen. Die Schülerin verlässt den Raum und Bruno macht eine verzweifelte Miene: mittelmäßiges Fernsehspiel, Teil zwei. Im Roman hat diese Neigung Brunos zu jungen Frauen unter 30 eine ganz bestimmte Bedeutung, im Film erscheint diese Szene völlig belanglos.
     
  • Als Bruno im Camp von Nudisten und Libertinären nackte Frauen sieht, gehen ihm die Augen über. Die ganze Beschreibung der Romanszene wird hier ersetzt durch eine platte Sequenz, die einem Softsexfilm oder einer durchschnittlichen Komödie entstammen könnte. Genauso lachten denn auch einige Zuschauer bei dieser Szene.
     
  • Die philosophischen Traktate des Romans, die Überlegungen Michels kommen im Film am äußersten Rand und ohne irgendeinen ersichtlichen Zusammenhang zur Handlung, ja: „zur Sprache” kann man eigentlich gar nicht sagen, eher „einfach nur vor”.
     
  • Und dann der Schluss des Films: Bruno, Michel und Annabelle (die im Unterschied zum Roman nicht gestorben ist) sitzen vereint in Liegestühlen unter blauem Himmel am See und Bruno sieht die bereits tote Christiane im vierten Stuhl. Happyend mit einer Toten. Ich fass es nicht. War es der Wannsee in Berlin, wohin Roehler die Handlung verlegt hat? Pack die Badehose ein. Gerade dieser Schluss nimmt dem Roman sozusagen alles, was seinen Inhalt ausmacht. Und es verwundert kaum noch, dass der Verleih genau mit dieser Szene auf dem Filmplakat wirbt. Ein gemütlicher Schluss.
     

Roehler bringt es wirklich fertig, die Handlung des Romans nicht nur konventionellen Regeln zu unterwerfen, d.h. wahrscheinlich auch einer diffusen ethical correctness zu opfern. Er glättet alles ein, vor allem aber die Bissigkeit, den Zynismus, das Satirische und das treffend Kritische des Romans. Er ersetzt dies teilweise durch eine Art billigem „Humor”, vor allem wenn er Bruno im Camp zeigt, in dem er Christiane kennen lernt.

Noch schlimmer aber ist, dass Roehler seinen Figuren kein bisschen Leben einhauchen kann. Bruno sitzt vor einer Ärztin (Corinna Harfouch) und erzählt über seine Kindheit und Jugend, wie er von seiner Mutter verlassen wurde und bei seiner Großmutter aufgewachsen ist, wie er im Heim missbraucht wurde usw. Aber das alles klingt aneinander gereiht, Stückwerk, Flickenteppich. Irgendwann kniet er auf dem Boden und phantasiert die tote Christiane. Gerade diese Szene wirkt lächerlich plump, ohne wirklich emotional nachvollziehbar sein zu können. Und auch Martina Gedecks Christiane ist nicht die Figur des Romans – weit davon entfernt –, sondern irgendeine Frau, die wohl irgendwelche Probleme hat, über die selbst der geneigte Zuschauer nur spekulieren kann. Aber all diese Spekulationen würden nichts fruchten.

Und Nina Hoss als 68er-Mutter? Auch ihre Figur wird gnadenlos charakterlich eingeebnet, erscheint eher als ganz sympathische Frau, die vielleicht als Mutter nicht so funktionierte, wie sie hätte sollen, aber was soll’s?

Und man muss sich wirklich fragen: Was soll’s? Was soll dieser Film? Vielleicht ist Houellebecqs Roman filmisch nicht oder nur sehr schwierig zu adaptieren, vielleicht. Roehlers Film fehlt jedenfalls alles: die Linie, der Zusammenhang, die Kritik des Romans, dessen Bösartigkeit und Zynismus, aber auch dessen Liebe und Humanismus. Anders formuliert: Roehler zeigt zwei deutsche leidende Männer, mit allen dramaturgischen Abstrichen, die man bei seiner Darstellung von Bruno und Michel (im Film Michael) feststellen muss, denen am Schluss ein Happyend gegönnt wird: betulicher geht’s nimmer. Alles andere läuft unter „ferner liefen” oder wird ausgeklammert. Alles andere aber ist das Wichtigste des Romans.

(1) Michel Houellebecq: Elementarteilchen. 2003, List-Verlag, S. 356 f.
(2) Anne Wilson Schaef: Weibliche Wirklichkeit, München 1985.

© Bilder: Constantin Film