Elling
(Elling)
Norwegen 2001, 90 Minuten
Regie: Petter Næss

Drehbuch: Axel Hellstenius, nach dem Roman „Blutsbrüder“ von Ingvar Ambjørnsen
Musik: Lars Lilo Sternberg
Director of Photography: Svein Krøvel
Montage: Inge-Lise Langfeldt
Produktionsdesign: Jan Sundberg

Darsteller: Per Christian Ellefsen (Elling), Sven Nordin (Kjell Bjarne), Marit Pia Jacobsen (Reidun Nordsletten), Jørgen Langhelle (Frank Åsli), Per Christensen (Alfons Jørgensen), Hilda Olausson (Gunn), Ola Otnes (Hauger), Eli Anne Linnestad (Johanne), Cecilie A. Mosli (Cecilie Kornes), Joachim Rafaelsen (Haakon Willum), Per Gørvell (Eriksen)

Elling, Kjell Bjarne und wir

Nach allem, was man so lesen konnte, wirft der norwegische Film „Elling“ einen „erfrischend entspannten Blick auf psychische Probleme“ und verdeutlicht, welche „zarte Membrane [...] das ›Normale‹ vom anderen Extrem“ trennen („Der Spiegel“). Aha. Im „Tagesspiegel“ wird Elling zur „Identifikationsfigur für alle Erniedrigten und Verzweifelten“. Der „Schnitt“ ist allen normalen, sprich geistig sich für völlig gesund erklärenden Kritikern mal wieder weit voraus und sieht in „Elling“ eine „leicht regressiv(e) und modernitätsfeindlich(e) Haltung“; offenbar brauche man den „Kind gebliebenen ›Irren‹, um wahre Kunst zu erschaffen“. Welch Ausdruck von Erwachsensein! Die „taz“-Normale Frau Leweke fühlte sich beim Genuss (?) des Streifens „wie in einer künstlerischen Gestalttherapie“, in der das „Verständnis [...] für seine beiden Käuze (!)“ einfach überhand nehme. Hatte sie Angst?

Ich war verwirrt ob solcher Flut von Normalität und sah mir „Elling“ an, der übrigens in Norwegen 800.000 Menschen ins Kino gelockt haben soll.

Viel weiß man nicht über Elling (Per Christian Ellefsen) und Kjell Bjarne (Sven Nordin), die sich beide ein Zimmer in der Psychiatrie teilen müssen. Der schmächtige Elling lebte in Abgeschiedenheit von der Außenwelt bei seiner Mutter bis zu deren Tod; nach eigener Auskunft sind Angst und Schwindelgefühl seine ständigen Begleiter, vor allem, wenn er seine vier Wände verlassen soll. Elling tituliert sich selbst als Muttersöhnchen. Der „Wikinger“-Typ Kjell Bjarne dagegen hat zwei Dinge, die ihm ständig im Kopf kreisen: Gutes und vor allem viel Essen und: Sex. Mit dem Essen hat er wenig Probleme Aber Sex hat er in seinen vierzig Lebensjahren bis dato nie gehabt. Da Elling Mitleid mit dem armen Kjell Bjarne hat, erzählt er ihm erfundene Geschichten über seine angeblich reichhaltigen Erlebnisse mit Frauen.

Eines Tages beschließt der norwegische Staat in Gestalt des Sozialamtes Oslo, dass Elling und Kjell Bjarne auf Bewährung aus der Psychiatrie entlassen werden sollen – natürlich unter Aufsicht in persona des freundlichen, aber durchaus auch strengen Sozialamtsbeamten Frank Åsli (Jørgen Langhelle), der die beiden in einer geräumigen Wohnung auf Kosten des Staates einquartiert. Von diesem Stützpunkt aus sollen sie beweisen, dass sie zu einem geregelten Leben fähig sind. Also: Weg mit der Bunkermentalität, rein in den Alltagskampf! Dazu gehört für Åsli vor allem, dass Elling endlich mit anderen Menschen Kontakt aufnimmt, zumindest ab und zu seine Wohnung verlässt und sich unter Menschen begibt. Warum sollte Elling das jedoch tun? Warum sollte er seine neuen vier Wände verlassen, zwischen denen er sich wohl fühlt? Warum sollte er telefonieren lernen, in so ein Plastikding sprechen, ohne jemanden dabei zu sehen?

Es scheint schwierig zu werden für die Ziele des norwegischen Staates in bezug auf Elling. Und auch Kjell Bjarne muss einiges dazu lernen, z.B. sich jeden Tag zu waschen und seine Unterhosen nicht erst alle zehn Tage zu wechseln. Aber Elling wäre nicht Elling und Kjell Bjarne nicht Kjell Bjarne, wenn sie beide nicht wie von der Zauberhand geführt und mit ein bisschen Druck von Åsli Energien entwickeln würden. Was das heißt? Sie profitieren voneinander. Kjell Bjarne bringt Elling dazu, die sicheren vier Wände zu verlassen und sich in die feindliche Welt zu begeben. Und Elling kann Kjell Bjarne davon überzeugen, nicht nur ans Essen zu denken, sondern auch auf sein Äußeres zu achten. Das ist auch bitter nötig. Denn am ersten Weihnachtsabend in ihrer neuen Wohnung finden sie im Treppenhaus ihre Nachbarin Reidun (Marit Pia Jacobsen), hochschwanger und sturzbetrunken. Kjell Bjarne bringt sie in ihre Wohnung, kümmert sich um sie und – was kaum noch zu vermeiden ist – verliebt sich unsterblich.

Elling reagiert eifersüchtig. Doch nach und nach sieht er ein, dass er seinen Freund wegen dieser Beziehung nicht verlieren wird. Und im übrigen: Elling entdeckt, dass er sich ohne seine bisherigen ständigen Begleiter Angst und Schwindelgefühl auf Entdeckungsreisen durch das Leben aufmachen kann. So schlendert er z.B. zu einem Literaturabend. Dabei lernt er den Schriftsteller Alfons Jørgensen (Per Christensen) kennen. Der Sinn für Poesie und ein altes Auto spielen für die Zukunft von Elling und Kjell Bjarne dann noch wichtige Rollen ...

Nein, in diesem Film geht es nicht um die Geschichte von Psychopathen, „psychisch Gestörten“, „psychisch Labilen“ oder ähnlichem. Peter Næss erzählt eine ganz andere Geschichte, die von zwei Männern, die bislang daran gescheitert sind, mit alltäglichen Dingen zurechtzukommen, sich im Alltag zurechtzufinden, die daraus die Konsequenz gezogen haben, in einer ihnen eigenen Welt zu leben. Krankhaft? Die Figuren von Elling und Kjell Bjarne sind dramaturgisch absichtlich überzeichnet, was nicht heißen soll, dass sie nicht real vorstellbar sind. Doch Næss stellt nicht die Frage von „Regel“ und „Ausnahme“, von „Normalität“ und „Abweichung“. Er zeigt durch Überzeichnung seiner Hauptfiguren, wie zwei Menschen die Dinge in der Welt bezwingen, vor denen sie sich fürchten. Bei Elling ist dies der Kontakt zu anderen, der ihm Schwindel und Angst bereitet. Bei Kjell Bjarne ist es das andere Geschlecht, zu dem er bislang keine Nähe entwickeln konnte. Der Humor des Films ergibt sich aus der Konfrontation der beiden Figuren mit für uns zumeist völlig banalen Situationen. Als Elling eine Bahnfahrkarte kaufen will, fragt ihn der Schalterbeamte „One Way?“ Elling fragt zurück: „Is there more than one way? I’d like the quickest possible one please.“

Elling ist erstaunt über Leute, die ohne Ängste zum Südpol reisen können, wo er doch schon Urängste entwickelt, wenn er zu einem Restaurant oder zum Supermarkt um die Ecke gehen soll.

Kjell Bjarne lernt Reidun kennen. Doch er hat keine Ahnung, wie er mit ihr umgehen soll, vor allem, was er mit ihr reden soll. Er „rettet“ sie auf der Treppe, kümmert sich behutsam um Reidun, doch in allen anderen Dingen ist er hilflos gegenüber ihr.

Beide haben jedoch das große Glück, gegenseitig das voneinander lernen zu können, was der jeweils andere aus Angst nicht beherrscht. Und dann entsteht eine neue Angst, jedenfalls bei Elling: Da Kjell Bjarne sich auf Reidun zu konzentrieren beginnt, fürchtet Elling nicht so sehr um die Freundschaft als um die Hilfe, die ihm Kjell bisher war. Aber beide meistern die Situation. Noch mehr: Während Kjell zu Reidun eine Beziehung entwickelt und sogar Vater eines Kindes wird, das nicht von ihm ist, glaubt Elling sein poetisches Talent entdeckt zu haben. In seiner ihm eigenen Art versteckt er seine Gedichte in Sauerkrautpackungen, die er heimlich wieder in den Supermarkt zurückbringt, damit er anonym bleibt und die Leute trotzdem seine Gedichte lesen.

Næss Film zielt nicht so sehr auf irgendeine Art von Verständnis von „psychisch Kranken“; er zielt auf uns alle. Denn bei reiflichem Nachdenken kennen wir doch alle Situationen, die von anderen alltäglich gemeistert werden, uns aber Überwindung kosten. Der eine ist etwas kontaktscheu, der nächste hat Probleme mit dem anderen Geschlecht, der dritte hat zwei linke Hände, wenn es um handwerkliche Dinge geht, ein weiterer würde sich niemals im Restaurant über schlechtes Essen beschweren, dem nächsten läuft eine Gänsehaut über den Rücken, wenn er eine Aufgabe erledigen soll, die bisher nicht zu seinem Arbeitspensum gehörte usw. usf. Und alle entwickeln wir in solchen Situationen unsere kleineren oder auch größeren Ängste. Soweit sind Elling und Kjell Bjarne daher von uns allen nicht entfernt.

Vor allem aber entwickeln die beiden fast vollständig allein bzw. mit ein bisschen Druck des Sozialarbeiters, mit ein bisschen gegenseitiger Hilfe und vor allem: unter Beibehaltung ihrer Eigenheiten das, was man Individualität nennen könnte. Næss inszeniert seine Geschichte entlang von Drama und Komödie, und dabei gelingt ihm das so schwierige Unterfangen, die Einheit von Tragischen und Komödiantischen im Leben zu verdeutlichen, wie eng beides oft miteinander verknüpft ist.

Sicherlich, in Elling und Kjell Bjarne findet man in gewisser Weise ein konzentriertes „Substrat“ menschlicher Ängste abgebildet. Daher neigt man dazu, in beiden Figuren etwas „Abweichendes“ zu sehen. Das Phänomenale an Næss Film ist jedoch, das er beide Figuren weder erklärt (denn man erfährt über ihre Kindheit und Jugend nur wenig), noch sie als „Verrückte“ einführt. Sie werden ganz „normal“ präsentiert. Man könnte auch sagen: Sie gehören eben zur enormen Bandbreite menschlicher Möglichkeiten. Die Scheidelinie zwischen „Normalem“ und „Krankem“ ist nicht nur nicht aufgehoben. Das Erfrischende ist, dass Næss gar nicht erst versucht, eine solche Trennung zu ziehen.

In Per Christian Ellefsen und Sven Nordin standen Næss zwei Schauspieler zur Verfügung, die das offensichtlich sehr gut verstanden haben, zwei ausdrucksstarke Mimen, die das Drama konsequent durchexerzieren können.

Zur Oscar-Nominierung für den besten ausländischen Film konnte man Næss nur gratulieren. Eine in jeder Hinsicht sehenswerte Komödie mit einigen Denkaufgaben für sich selbst. Vor allem stellt sich mir eine Frage: Wer definiert mit welchem Recht, was Normalität ist?