Fontane Effi Briest (1974)
Faustrecht der Freiheit (1975)
Mutter Küsters Fahrt zum Himmel (1975)
In einem Jahr mit 13 Monden (1978)




Fontane Effi Briest
Deutschland 1974, 140 Minuten (DVD: 135 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, nach dem Roman von Theodor Fontane
Musik: Camille Saint-Saëns, Ludwig van Beethoven, Spohr
Director of Photography: Jürgen Jürges, Dietrich Lohmann
Montage: Thea Eymèsz
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Hanna Schygulla (Effi Briest), Wolfgang Schenck (Baron Geer von Instetten), Ulli Lommel (Major Crampas), Lilo Pempeit (Luise von Briest), Herbert Steinmetz (Herr von Briest), Ursula Strätz (Roswitha), Irm Hermann (Johanna), Karlheinz Böhm (Wüllersdorf), Barbara Valentin (Marietta Tripelli), Hark Bohm (Apotheker Gieshübler), Rainer Werner Fassbinder (Erzähler)

„Ein zu weites Feld“

„Effi Briest – oder:
Viele, die eine Ahnung haben von ihren
Möglichkeiten und Bedürfnissen und
dennoch das herrschende System in ihrem
Kopf akzeptieren durch ihre Taten und
es somit festigen und durchaus bestätigen.“
(Fassbinders Untertitel zum Film)

Theodor Fontane (1819-1898) gehört nicht nur zu den herausragenden Erzählern der deutschen und der Weltliteratur; sein „poetischer Realismus“ und seine differenzierte Beobachtungsgabe führten ihn über die detaillierte, oft kritische Beschreibung von Personen, ihrem Verhalten, ihrer Ausdrucksweise, ihrer Umgebung usw. zu einer tiefgehenden, oftmals radikalen Kritik gesellschaftlicher Konventionen. Dabei spielt die in seinen Romanen immer wieder deutlich bemerkbare Liebe zu seiner Heimat (Neuruppin), der Mark Brandenburg, und ihren Menschen eine besondere Bedeutung. Denn sie „verhinderte“ sozusagen, dass sich in Fontanes Kritik der sozialen Konventionen Feindseligkeit einschlich. Fontane bleibt trotz allem seinen Protagonisten gegenüber immer verbindlich.

Dies mag ein Grund für Rainer Werner Fassbinder gewesen sein, sich 1974 Fontanes Roman „Effi Briest“ anzunehmen. Fassbinder wollte nicht einfach einen Roman adaptieren, eine Geschichte erzählen, sondern versuchen, sie so zu erzählen, dass Fontanes Sicht der damaligen Zeit – wir befinden uns im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Mark Brandenburg – möglichst weitgehend zum Ausdruck kommt.

Der in Schwarz-Weiß gedrehte Film erzählt die Geschichte der 17jährigen Effi Briest (Hanna Schygulla), die in Hohen-Cremmen bei ihren Eltern (Lilo Pempeit, Herbert Steinmetz) aufwächst und mit dem Landrat des Kreises Kessin südöstlich von Rostock, dem mehr als 20 Jahre älteren Baron Geert von Instetten (Wolfgang Schenck), verheiratet werden soll. Die junge Effi, eine lebenslustige Frau, die etwas vom Leben erwartet, willigt in die Ehe mit Instetten ein, weil der Baron gut und nachsichtig sei, auch wenn er als Mann von Prinzipien keine Leidenschaft entfalte und eher kühl, zugeknöpft und allzu ernst sei.

Das Paar zieht nach Kessin, und Effi betritt eine Welt der Langeweile, der Distanz und der Fremdheit. Johanna (Irm Hermann), der Hausangestellte des Barons, ist die Distanz zu Effi besonders deutlich anzumerken. Aber auch die Bekannten des Barons wertet Effi eher als mittelmäßige Menschen ohne jegliche Besonderheiten, die bei ihr keine Neugier wecken können. Selbst der Sängerin Marietta (Barbara Valentin) muss Effi konstatieren, dass sie beim Singen so gefasst und sicher wirke.

Nur Roswitha (Ursula Strätz), eine Dienstmagd, die Effi kennenlernt und als Kindermädchen einstellt, da sie inzwischen schwanger ist, scheint mehr von der Welt zu kennen und ihr Leben hier und da zu genießen, etwa durch eine Liaison mit dem verheirateten Kutscher des Barons, und den Konventionen, wann es geht, ein Schnippchen zu schlagen. Roswitha war vor langer Zeit von ihrem Vater gezüchtigt worden, weil sie ein uneheliches Kind erwartete.

Effie hingegen wird in der Einsamkeit des Lebens in Kessin von Ängsten und Alpträumen geplagt; selbst ein längst verstorbener Chinese wird für Effi zu einem Spuk, der sie nicht mehr los lässt. Sie hört Geräusche. ... Bis ...

„Dass Instetten sich seinen Spuk parat hielt,
um ein nicht ganz gewöhnliches Haus
zu bewohnen, das mochte hingehen, das
stimmte zu seinem Hange, sich von der
großen Menge zu unterscheiden; aber das
andere, dass er den Spuk als Erziehungsmittel
brauchte, das war doch arg und beinahe
beleidigend. Und ‚Erziehungsmittel’,
darüber war sie sich klar, sagte nur die
kleinere Hälfte; was Crampas gemeint
hatte, war viel, viel mehr, war eine Art
Angstapparat aus Kalkül. Es fehlte jede
Herzensgüte darin und grenzte schon fast
an Grausamkeit.“
(Fontane: Effi Briest, 17. Kapitel)

... bis Effi eines Tages den jungen Major Crampas (Ulli Lommel), einen alten Bekannten des Barons kennenlernt, der sich ad hoc in die junge Frau verliebt. Der Baron, ein viel beschäftigter Mann, bittet Crampas während seiner längeren Abwesenheiten auf Effi aufzupassen. Und Effi und Crampas verbringen Stunden um Stunden bei gemeinsamen Spaziergängen. Nicht nur das: Als der Major Effis Hand leidenschaftlich küsst, fällt sie in eine angenehme und doch wieder mit Angst verbundene Ohnmacht. Der Major meint bei einem der vielen Gespräch, der Baron setze den Spuk, der Effi immer wieder erfasst, als Erziehungsmittel ein – so, dass die Angst Effi in die Schranken der Konvention verweisen solle.

Ein Jahr sind Effi und der Baron nun verheiratet, als er zum Ministerialrat ernannt wird. Effi schöpft Hoffnung, weil diese Ernennung mit einem Umzug nach Berlin verknüpft ist. Sie nimmt Abschied von Crampas, aber auch von dem Apotheker Gieshübler (Hark Bohm) aus ihrer Heimatstadt Hohen-Cremmen, der ihr immer ein guter Gesprächspartner war.

Effi hat noch immer Angst – aber sie empfindet keine Scham wegen ihrer Schuld angesichts der heimlichen Treffen mit Crampas.

Als der Baron im sechsten Jahr beider Ehe die Briefe, die der Major Effi damals geschrieben hatte, entdeckt, will Instetten Crampas zum Duell fordern – obwohl sein Freund Wüllersdorf ihm zunächst davon abrät ...

„Ich finde es furchtbar, dass Sie recht
haben, aber Sie haben recht. Ich quäle
Sie nicht länger mit meinem ‚Muss es
sein?’. Die Welt ist einmal, wie sie ist,
und die Dinge verlaufen nicht, wie wir
wollen, sondern wie die andern wollen.
Das mit dem ‚Gottesgericht’, wie manche
hochtrabend versichern, ist freilich ein
Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser
Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber
wir müssen uns ihm unterwerfen,
solange der Götze gilt.“
(Fontane: Effi Briest, 27. Kapitel,
Wüllersdorf zu Instetten)

Der Baron verstößt Effi, nachdem er Crampas getötet hat. Und auch Effis Eltern wollen ihre Tochter nicht mehr sehen. Effi akzeptiert ihr Schicksal, zieht mit Roswitha – der einzige Mensch, der zu ihr hält – mit dem bisschen Geld, das der Baron ihr gibt, in eine kleine Wohnung. Nur eines will sie: ihre inzwischen zehnjährige Tochter Annie sehen. Effi, die Crampas nicht einmal geliebt hat, akzeptiert ihre von den Konventionen her „abgeleitete“ Schuld. Als Annie sie besucht und Effi sehen muss, wie der Baron das Kind schon in seinem Sinne abgerichtet hat, wird sie krank. Und ein Jahr später – von den Eltern wieder aufgenommen – stirbt sie, nicht ohne Instetten verziehen, ja sein Verhalten gerechtfertigt zu haben – an Schwindsucht. Als ihre Mutter Vater Briest fragt, wer an alldem die Schuld trage, antwortet der alte Mann: „Das ist ein zu weites Feld.“

„Ich habe geglaubt, dass er ein edles
Herz habe, und habe mich immer klein
neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich,
dass er es ist, er ist klein. Und weil er
klein ist, ist er grausam. Alles, was klein
ist, ist grausam.“
(Fontane: Effi Briest, 33. Kapitel,
Effi über Instetten)

Eine zumeist fast statische Kamera erfasst die Personen als Momentaufnahmen der Konvention. Das Starre im Festgehaltenen wiederholt sich in den Spiegelungen, die Fassbinder allerorten im Film einsetzt. Die Personen „begegnen“ sich über die Spiegelbilder des Gegenüber, was zugleich eine gewisse Distanz zum Ausdruck bringt. Sie manifestiert sie Personifizierungen der Konvention; sie sind nicht (mehr) sie selbst. Schließlich lösen sich etliche Szenen in weißen Ausblendungen auf – so, als ob die unterschwelligen Konflikte, Ängste, aber eben auch das „Unter-Drücken“ des potentiell Normabweichenden (Effie) durch eine Schneeschicht verborgen werden soll, um die Konvention aufrechtzuerhalten.

Der Erzähler (Fassbinder selbst) und die ab und an eingeblendeten Zwischentexte aus dem Roman heben konzentrierte Aussagen Fontanes hervor. So entsteht ein nahe an Fontanes Text orientiertes Bild einer vielschichtigen und zugleich (er-)drückenden Atmosphäre, in der Effi als Mensch gezeigt wird, der seine Bedürfnisse nach und nach der Konvention opfert. Die Internalisierung der ungeschriebenen Gesetze der bürgerlichen Konvenienz-Ehe, der familiären Tradition, auch im Sinne der Tradierung des sozialen Kodexes, korrelieren mit den zunehmenden Ängsten Effis – nur zeitweise durchbrochen etwa durch die Begegnung mit Crampas oder Roswitha – bis hin zu Krankheit und Tod.

Das „zu weite Feld“, die Unfähigkeit, manchmal auch Unwilligkeit des die Normen internalisierenden Subjekts, die Falschheit, das Neurotische, das wie ein Alp Bedrückende der eigenen Existenz als historisch bedingt zu erkennen (Voraussetzung, um es zu überwinden), bebildert sich sozusagen in der für die Protagonisten nicht sichtbaren Differenz zwischen ihren Konventionen und der sie umgebenden natürlichen Umgebung. Die Bilder sprechen Bände: Wie von Gott gegeben erscheinen die Natur der Mark Brandenburg und die Natur der Menschen und ihres Verhaltens als homogene Einheit, so, als ob sich aus der außermenschlichen, von Gott gegebenen Natur ergäbe, was sich im Menschen tut und zu tun hat. Dieser Schein wird allerdings immer wieder durchbrochen durch die Ängste und Alpträume Effis und ihren inneren Widerwillen. Wie etwas unsichtbar Quälendes durchschneiden Schuld und Sühne in fast lautloser Weise das konventionsgetränkte Geschehen – und selbst der Baron kann seine Selbstzweifel nur schwer verbergen.

Effi, deren Lebenslust permanent im Korsett der herrschenden Moral auf das Normierte zurecht gestutzt wird, kann den Teufelskreis nicht durchbrechen. Ihr angepasster Verstand und ihre normierte Vernunft obsiegen über ihre zunächst fast ungebändigte Gefühlswelt. Ihr Herz besiegt das Kleinliche, das Kleine, das mit Grausamkeit gepaart ist, wie sie sagt, aber ihr Verstand unterliegt der genormten Vernunft. Dass diese Vernunft ein Fremdkörper, etwas Auferlegtes, Anerzogenes und dann Verinnerlichtes ist, entspricht der äußeren Entfremdung: Sie geht in die Fremde (Kessin), erlebt Fremdes, Äußerliches, Distanzierendes – und doch ist dieses Fremde nur eine Vervollkommnung des Eigenen (ihrer Heimat), weil es dort schon im Keim vorhanden war und zur Blüte gekommen ist, ohne dass es ihr wirklich bewusst gewesen wäre. Ihre Erkrankung ist „nur“ die äußere Reaktion, ihr Tod „nur“ die kapitulierende Rebellion gegen eine kalte, gefühllose Umgebung, der ihr Herz im Innersten widersteht. „Ein zu weites Feld“, um es zu durchschauen, geschweige den zu durchbrechen.

Dass Fassbinder hier nicht „reine Zeitgeschichte“ betreibt, versteht sich im Kontext seiner Filme in deren Gesamtschau von selbst. Denn die Mechanismen, die Fontane im Roman und Fassbinder im Film beschreiben, lassen sich im Fortgang der bürgerlichen Gesellschaft bis in die Gegenwart immer wieder beobachten – wenn auch unter jeweils anderen Voraussetzungen. Fontane beschreibt den Untergang einer (preußischen, vom Adel bestimmten) Welt im Übergang zur Welt einer aufkommenden städtischen Mittelklasse; sein Blick ist nicht der eines Beobachters, der wild auf die im Roman gezeichneten Untergehenden verbal einschlägt, sondern der eines literarischen Analytikers, der im herannahenden, vermuteten, prognostizierten Neuen schon den Keim für neue Konflikte, die nur die alten im neuen Gewand zu sein scheinen, vermutet. Instetten ist in dieser Sicht Protagonist einer untergehenden Welt, aber weder Fontane, noch Fassbinder positionieren ihn als Feindbild einer Geschichte, in der Effi andererseits eine Art Heldin wäre. Ganz ähnlich wie in „Martha“ (1973/74) sind auch die vermeintlichen Heldinnen in ihrem begrenzten Horizont befangen und gefangen und tradieren durch ihre Unterwerfung die Mechanismen der Konvention „auf höherer Ebene“– nur eben, wenn man es in längeren Zeiträumen denkt, durch eine Art Metamorphose der Konvention unter anderen sozialen Bedingungen.

In „Martha“ setzen sich tief verwurzelte und tradierte psychologische Mechanismen, die in der Außenwelt keine Entsprechung mehr zu finden scheinen, an die Stelle der sichtbaren und ganz offen propagierten Konventionen zur Zeit Effis. Während Martha (Margit Carstensen) durch subtile psychologische Mechanismen ihres Peinigers Helmut Salomon (Karlheinz Böhm) zur Kapitulation als Frau und damit als Mensch getrieben wird, benötigt der Baron lediglich den Spuk und die Angst und den Verweis auf das vermeintlich „Natürliche“ und „Gottgegebene“.

Gerade hier stellen Fontane wie Fassbinder die schwierige Frage nach den Möglichkeiten des Individuums, diese Befangenheit zu durchbrechen. Diese Frage, die verschieden formuliert werden kann, manifestiert sich beispielsweise darin, in welchem Verhältnis Anpassung und Widerstand in einem Menschen zueinander stehen und wo jeweils eins von beiden seine „Berechtigung“ haben könnte.

Die Frage bleibt offen: „ein zu weites Feld“?



Faustrecht der Freiheit
Deutschland 1975, 12 Minuten (DVD: 118 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, Christian Hohoff
Musik: Peer Raben, Josef Niessen
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Thea Eymèsz
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Rainer Werner FassbinderRainer (Franz „Fox“ Bieberkopf), Peter Chatel (Eugen Thiess), Karlheinz Böhm (Max), Harry Baer (Philip), Adrian Hoven (Wolf Thiess), Christiane Maybach (Hedwig), Ulla Jacobsson (Eugens Mutter), Hans Zander (Springer), Kurt Raab (Wodka-Peter), Rudolf Lenz (Dr. Siebenkäss, Anwalt), Karl Scheydt (Klaus), Barbara Valentin (Max’ Frau), Peter Kern (Florist Fatty), Karl-Heinz Staudenmeyer (Krapp), El-Hedi ben Salem (Salem), Ingrid Caven (Sängerin)

„Ich will nur wieder so sein können, wie ich bin“

„Like a bird on the wire,
like a drunk in a midnight choir
I have tried in my way to be free
Like a worm on a hook,
like a knight from some old-fashioned book
I have saved all my ribbons for thee
If I, if I have been unkind
I hope that you can just let it go by
If I, if I have been untrue,
I hope you know it was never to you.“ (1)

Da wird einer verhaftet, Klaus (Karl Scheydt), ein Schausteller, wie man sie früher nannte, einer, der Sensationen präsentierte, auch „Fox, den sprechenden Kopf“. Fox (Rainer Werner Fassbinder) ist nun arbeitslos und hat seinen homosexuellen Freund Klaus an die Polizei verloren. Das Ensemble muss gehen. Auch Franz Bieberkopf – so Fox bürgerlicher Name – geht. Erst einmal zu seiner alkoholabhängigen Schwester Hedwig (Christiane Maybach), deren Freund im Knast sitzt und die kein Geld hat. Proletarier unter sich. Und ganz anders als Bieberkopfs (den Namen entlehnte Fassbinder „Berlin Alexanderplatz“) weibliches, aber Mittelklasse-Pendant Petra von Kant im gleichnamigen Film kann Franz keine Schönheit in das Spiel der Ökonomie einbringen, um die Defizite im sozialem Status zu kompensieren.

Franz ist zurückgeworfen auf sich selbst. Er trägt das Los seiner Klasse. Und jetzt produziert der Regisseur Fassbinder etwas, was diesem Los der Klasse eine leicht parodistische Nuance und zugleich einen sozialen Schub verleiht: Er lässt Franz im Lotto gewinnen. Ein Traum wird Wirklichkeit. Dem Los der Klasse hilft sozusagen ein Los der Klassenlotterie auf die Sprünge, eine Art Katalysator, und doch eher der Schein eines Sprungbettes – wie man im zweiten Teil des Melodramas sehen wird – und daher eben vor allem eine Art fast schon märchenhafter Wink der (Lotto-)Fee mit der Ökonomie des Geldes und ihrer unbarmherzigen Gesetze – so dass sich aus dem Märchen nur ein Horror entwickeln kann.

Franz ist das, was man einen „einfachen“ Menschen, einen „einfältigen“ Menschen nennen könnte, wenn man ihn – und wie sollte man das anders sehen? – im Rahmen des Ganzen der Klassengesellschaft einordnet. Er kann kein Französisch, versteht nichts von gehobener Kultur und Tischmanieren, hat sich nicht im Zaum. Über den schwulen Antiquitätenhändler Max (Karlheinz Böhm) und den Lottogewinn von 500.000 Mark öffnen sich Franz die Türen zur gehobenen homosexuellen Mittelklasse samt heterosexuellem Anhang. Er, der Klaus verloren hat, trifft auf Eugen (Peter Chatel), einen, wie Franz sagt, schönen, netten, aber auch „vornehmen und bekotzten“ Vertreter seiner Schicht, dessen Vater (Adrian Hoven) eine bislang gut florierende Großbuchbinderei besitzt, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten ist. Während Eugen seinem bisherigen Geliebten Philip (Harry Baer) den Laufpass gibt, spekuliert er auf das Geld von Franz, nicht nur um den alteingesessenen Betrieb wieder auf Vordermann zu bringen, sondern auch, um seinem eigenen Leben den ihm gebührenden Style zu verpassen.

Franz kreditiert das Geschäft mit 100.000 Mark, kauft Eugen und sich eine Eigentumswohnung samt bei Max erworbenem Interieur im Wert von 80.000 Mark und nobler Edelkarosse. Eugen, der Franz gegenüber mit vorgetäuschter Freundlichkeit und ebenso vorgetäuschter Absicht, ihn in die Welt der gehobenen Mittelklasse einführen zu wollen, andererseits mit offen zur Schau getragener Verachtung begegnet, kalkuliert scharf.

Ein Darlehensvertrag – abgeschlossen vor Dr. Siebenkäss (Rudolf Lenz), der zur näheren Sippschaft um Eugen und Max gehört – scheint Franz abzusichern: 100.000 DM auf zwei Jahre bei 7% Zinsen. Aber schon hier haut man Franz über’s Ohr: Die versprochene Teilhaberschaft am Betrieb enthält der Vertrag nicht. Zudem muss Franz im Betrieb von Thiess arbeiten. Als er an der Schneidemaschine 40.000 Exemplare einer Zeitschrift verschneidet, hat Eugen Franz endlich vollends in der Hand. Er lässt sich die teure Wohnung samt Inventar überschreiben – angeblich nur als Sicherheit gegenüber der Bank, die dem Betrieb ansonsten keinen Kredit mehr geben würde.

Franz ist psychisch am Ende. Er bekommt Valium verschrieben, weil er unter Herzschmerzen leidet. Er spürt, dass Eugens Welt nicht die seine ist. Als er sich von ihm trennen will, besitzt er fast nichts mehr. Für den Sportwagen bekommt er gerade mal 8.000 Mark.

Franz endet in einer Frankfurter U-Bahn-Station – ausgeraubt von zwei Kids und liegen gelassen von Max und seinem Ex-Freund Klaus, dem er noch 30.000 Mark gegeben hatte, damit er sich eine Existenz aufbauen konnte, weil beide „mit der Sache“ nichts zu tun haben wollen.

„Like a baby stillborn,
like a beast with his horn
I have torn everyone who reached out for me.
But I swear by this song
and by all that I have done wrong
I will make it all up to thee.
I saw a beggar leaning on his wooden crutch
He said to me, ‚You must not ask for so much.’
And a pretty woman leaning in her darkened door,
She cried to me, ‚Hey, why not ask for more?’“ (1)

Es dreht sich im Kreis. Zum Schluss sitzen Eugen und Philip als Paar wieder in der von Franz finanzierten Eigentumswohnung. Fassbinder ist in „Faustrecht der Freiheit“ gnadenlos, was die Ökonomie der Ökonomie angeht, und ebenso gnadenlos, was die Ökonomie der Liebe angeht. Dass der Film im Homosexuellen-Milieu spielt, hat eigentlich, so der Regisseur selber, nur einen dramaturgischen Effekt: Man schaut genauer hin. Und wenn man genauer hinschaut, sieht man in Franz eher das „weibliche“ Element, in Eugen das „männliche“, oder noch genauer: Franz handelt seinen Gefühlen entsprechend. Er ist in Eugen verliebt, nicht in dessen Geld, dessen sozialen Status, dessen Herkunft, sondern in ihn. Und so handelt er auch: aus Liebe gibt er, was er im Lotto gewonnen hat – nicht aus Berechnung, nicht aus ökonomischem oder emotionalem Kalkül.

So sieht es auch seine Schwester Hedwig: Franz sei dumm und primitiv. Franz ist dumm und primitiv, weil er nicht begriffen hat, dass seine „einfache“ Liebe, seine Uneigennützigkeit in „stiller“ Skrupellosigkeit ausgenutzt wird.

Eugen, sein Vater und Max sind die Schaltzentralen des Prinzips der Ökonomie der Ökonomie. Und Eugen versteht es vorzüglich, Franz Gefühle für ihn gnadenlos auszunutzen. Dem „Nur die Liebe vermittelt Beziehung“ setzt er gegenüber „Nur Geld vermittelt Beziehung“. Max, der gewiefte Vermittler zwischen den Welten, freundlich, immer leicht lächelnd (und wieder einmal exzellent gespielt von Karlheinz Böhm, der in „Martha“ 1973/74 gegenüber Margit Carstensen eine ähnliche, aber offen brutalere Rolle spielte), durchschaut das Spiel, ist eigentlicher Initiator des von langer Hand geplanten Betrugs an dem Proleten Franz.

Was Franz aus Liebe gibt, nimmt Eugen aus ökonomischem Kalkül. So „ergänzen“ sie sich – bis das Geld alle ist.

Über die konkreten Personen hinaus allerdings ist „Faustrecht der Freiheit“ eine ansonsten selten gesehene Kritik an den Mechanismen unserer Gesellschaft, tiefgreifend bis in die Einzelheiten der emotionalen und ökonomischen Ausbeutung, der Ausbeutung der Gefühle ebenso wie der Verfestigung der bestehenden Strukturen – und obwohl melodramatisch, dennoch nie rührselig. „Faustrecht der Freiheit“ ist vielleicht Fassbinders dramatischster Film in dem Sinne, dass er bis an die Grenzen des Erträglichen und damit bis in die letzten Winkel der Realität geht.

Als Franz spürt, dass er sich von Eugen trennen muss, sitzt er auf den Treppen einer Art Arena in einem Gebäude, dessen Inneres von künstlichem Licht bestrahlt wird, während Eugen ihm den Rücken zukehrt und Max vor Franz steht, der den Kopf senkt. Wie in einer klassischen Tragödie ist das Opfer ausgemacht, schon längst, bevor Franz es selbst jetzt bewusst ist. Er hat alles verloren, und wenn er sagt „Ich will nur wieder so sein können, wie ich bin“, ist ihm längst klar, dass das nicht mehr so sein wird.

Franz Bieberkopf ist – wie auch andere Hauptfiguren in Fassbinders Stücken – nie der „Held“, das Opfer, das sich aus seinen Zwängen bzw. den Zwängen, die ihm andere auferlegen, befreit oder auch nur befreien könnte. Fassbinders Perspektive geht über die Schmalspur-Sicht der Linken seiner Zeit hinaus. Wenn sich Fassbinder der linken Utopie des „Gegenmodells“ stets verweigerte, dann exemplarisch etwa mit den Worten:

„Im Moment kann ich mir das immer
nur vorstellen als Gegenmodell, und
dann ist es falsch. Das ist klar. Bei
einem Gegenmodell hat es eben auch
das in sich, wogegen es ist.“ (2)

In den Gegenmodellen der Linken tauchte „das Alte“ aber nie auf. Die „Dem -Morgenrot-entgegen“-Gesellschaft war als Utopie immer etwas „ganz anderes“ als die Gegenwart – im Unterschied etwa zur stalinistischen Praxis oder zum „kleinbürgerlichen Extremismus“ der DDR-Gesellschaft. Franz Bieberkopf gehört solchen Modellen ebensowenig an wie Petra von Kant, Martha, Lola – oder welche Hauptfigur man aus Fassbinders Filmen auch nehmen will. Fassbinder interessiert sich für wirkliche Menschen und wie sie sich bewegen, denken und empfinden.

Der Proletarier Franz scheitert an seiner eigenen psychischen und mentalen Disposition, die in der Konfrontation mit der Ökonomie der Ökonomie gnadenlos scheitert und scheitern muss. Das ideologisch verbrämte Postulat der individuellen Freiheit entpuppt sich als Erneuerung des Faustrechts in gesetzlich eingefassten Bahnen und mental eingeübter Praxis auf beiden Seiten, der „proletarischen“ wie der „bürgerlichen“ – zwei Seiten einer Medaille.

(1) Leonard Cohen: Bird on the Wire.
(2) Zit. n. Wolfgang Limmer: Rainer Werner Fassbinder, Filmemacher, 1981, S. 78.



Mutter Küsters Fahrt zum Himmel
Deutschland 1975, 120 Minuten (DVD: 113 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Kurt Raab
Musik: Peer Raben
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Thea Eymèsz
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Brigitte Mira (Emma Küsters), Ingrid Caven (Corinna), Margit Carstensen (Frau Thälmann), Karlheinz Böhm (Thälmann), Irm Hermann (Helene), Gottfried John (Niemeyer), Peter Kern (Nachtclubbesitzer), Kurt Raab (Barbesitzer Gustav), Gustav Holzapfel (Herr Holzapfel), Armin Meier (Ernst), Matthias Fuchs (Knab), Rainer Werner Fassbinder (Pfarrer)

Himmel und Erde

„Weil wir viel weniger Macht haben
als die andere Seite, aber die
menschlicheren Ideen, deswegen
dürfen wir auch zu den
verzweifelteren Mitteln greifen.“
(Knab zu Mutter Küsters beim
Sitzstreik in der Redaktion
(Schluss der US-Fassung des
Films)

Wie ein roter Faden durchzieht die Geschichte der marxistisch-leninistischen Linken die Auffassung, die am Schluss der US-Fassung des Films der Anarchist Knab (Matthias Fuchs) gegenüber Mutter Küsters (Brigitte Mira) darlegt, als beide mit einer weiteren Anarchistin (Y Sa Lo) in der Redaktion einer Boulevard-Zeitung einen Sitzstreik mit dem Ziel veranstalten, die Zeitung solle einen verleumderischen Artikel über Mutter Küsters Mann dementieren. Kein Wunder, dass sowohl die moskauhörige DKP wie die maoistische und anarchistische Linke Fassbinders Film aus dem Jahr 1975 als Angriff auf ihr „reines“ Selbstverständnis ablehnten.

Dass der geheiligte Zweck, der von den Protagonisten dieser Linken selbst zum edleren Zweck erklärt worden war – demokratische Zustimmung meinte man dafür nicht zu benötigen –, jedes Mittel rechtfertige, um ihn durchzusetzen, war allein nicht nur ein Merkmal dieser ML-Phase und ihrer Gruppen und Grüppchen zwischen 1968 und Ende der 70er Jahre. Wie Fassbinder in „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“ (der Titel ist eine Anspielung auf einen sog. „Arbeiterfilm“ aus dem Jahr 1929 „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“) zeigt, ist auch anderen in die Geschichte der Mutter Küsters verstrickten Personen jedes Mittel recht, um egoistische Bedürfnisse zu befriedigen.

Mutter Küsters – wie in „Angst essen Seele auf“ von der einzigartigen Brigitte Mira verkörpert – ist das, was man als „einfache“ Frau bezeichnet. Mutter Küsters und ihr Mann, Ende 50 / Anfang 60, gehören der Kriegsgeneration an, haben ihr Leben lang geschuftet, keine Ansprüche gestellt, nie aufbegehrt und doch immer einen Weg gefunden, um in ihrem Leben auch Zufriedenheit zu erreichen. Eine Schreckensnachricht greift eines Tages tief in Emma Küsters Leben ein. Ein Kollege ihres Mannes läutet an der Tür und teilt Emma mit, ihr Mann habe in der chemischen Fabrik, in der er schon lange gearbeitet hat, einen Vorgesetzten ermordet und dann sich selbst umgebracht – wahrscheinlich wegen von der Firmenleitung beabsichtigter Massenentlassungen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich diese Nachricht durch alle Medien. Im Radio ist von einem Verrückten die Rede, Fotografen und Reporter drängen sich in die Wohnung von Emma, um mehr zu erfahren, besser gesagt: um einen scoop, einen Knüller zu landen.

Zu ihnen gehört auch Niemeyer (Gottfried John), der Emma verspricht, einen wahrheitsgemäßen Artikel über ihren Mann zu publizieren. In Wirklichkeit will auch er nichts weiter als eine reißerische Story. Aber Emma glaubt dem sympathisch auftretenden Mann (zunächst). Ihr Sohn Ernst (Armin Meier) und vor allem dessen schwangere Frau Helene (Irm Hermann) hingegen fürchten um ihr eigenes Ansehen durch den Wirbel, den die Tat Küsters ausgelöst hat. Sie verlassen Emmas Wohnung, wollen nach ihrem Urlaub in eine neue Wohnung ziehen. Emmas Tochter Corinna (Ingrid Caven), eine abgehalfterte Barsängerin, wittert dagegen eine Chance für ihre Karriere. Ein Nachtclubbesitzer (Peter Kern) lässt sie als Tochter des „Fabrikmörders“ auftreten, Corinna schart die Pressemeute um sich und hofft auf Ruhm und Geld. Ausgerechnet mit Niemeyer, der mehr über sie und ihren Vater erfahren will, fängt sie ein Techtelmechtel an.

Emma, die von den Presseberichten entsetzt ist, weil ihr Mann als brutaler Vater und Verrückter dargestellt wird, fühlt sich nicht nur allein gelassen. Sie IST allein – von ihren Kindern im Stich gelassen. Da scheint unerwartet Hilfe aufzutauchen. Das Ehepaar Thälmann (Karlheinz Böhm und Margit Carstensen) nehmen sich Frau Küsters an, sprechen mit ihr, laden sie zu Kaffee und Kuchen ein und erklären ihr ihre Unterstützung. Die Thälmanns, im gutbürgerlichen Milieu lebend, sind Mitglieder der DKP. Und Thälmann „erklärt“ Mutter Küsters, dass ihr Mann kein „Fabrikmörder“ sei, sondern aus berechtigtem Protest gegen den Kapitalismus gehandelt habe – auch wenn das Mittel des Mordes, zu dem er gegriffen habe, falsch sei. Thälmann schreibt einen Artikel in der „uz“ („Unsere Zeitung“), der Zeitung der DKP, indem er Vater Küsters als Opfer des Kapitalismus darstellt und gleichzeitig – in Kritik an dem falschen Mittel des Mordes – für die DKP und ihren parlamentarischen, „ordentlichen“ Weg wirbt. Die Thälmanns schaffen es sogar, dass Mutter Küsters in die Partei eintritt, weil sie glaubt, nur hier Menschen gefunden zu haben, die ihr wirklich helfen und ihrem Mann Gerechtigkeit verschaffen wollen. Sie spricht vor den versammelten Anhängern der DKP, erhält viel Beifall – und doch: mehr als dies kommt nicht zustande, und Mutter Küsters ist enttäuscht, macht den Thälmanns Vorwürfe, die sich dadurch rechtfertigen, jetzt müsse die Partei erst einmal den Wahlkampf organisieren, bevor sie sich weiter um Mutter Küsters Sorgen kümmern könne.

Enttäuscht lässt sich Emma Küsters von dem Anarchisten Knab dazu überreden, eine „Aktion“ durchzuführen, die endlich die Öffentlichkeit wach rütteln und die Verantwortlichen in der Redaktion Niemeyers zwingen soll, den Inhalt des bösartigen Berichts zu dementieren. Was Mutter Küsters nicht weiß: Es geht nicht um eine friedliche Aktion. Knab und seine Gesinnungsgenossen dringen mit Mutter Küsters in die Redaktionsräume ein – und ziehen die Waffen. Sie wollen Geiseln nehmen, die Redaktion zum Dementi zwingen und fordern gleichzeitig die Freilassung sämtlicher politischer Gefangener.

Hier endet der Film. Fassbinder lässt den Schluss der deutschen Fassung vor dem Bild der völlig überraschten Mutter Küsters in Schriftzügen am Zuschauer „vorbeiziehen“. Inzwischen belagert die Polizei das Haus, in dem sich die Redaktionsräume befinden:

„Das Fluchtauto ist vorgefahren. Nach einiger Zeit kommen Mutter Küsters und die anderen mit den Geiseln heraus. Das Mädchen hat ihre Waffe auf den Kopf von Niemeyer gerichtet. Knab bewacht Linke“ (den Chefredakteur). „Mutter Küsters geht offensichtlich willenlos mit. [...] (Sie) geht wie schlafwandlerisch auf Ernst zu“, der den Polizeikordon durchbrochen hat. „Ein Schuss peitscht durch die Nacht. Mutter Küsters bricht zusammen. Knab erschießt Linke. Dann wird auch er getroffen. Corinna kommt, kniet sich nieder, nimmt ihre tote Mutter in den Arm und lässt sich photographieren.“

Fassbinder zeigt also weder den Mord und Selbstmord von Mutter Küsters Mann, noch die dramatisierte Schlussszene des Films. Natürlich ist die Schlussszene in gewisser Weise „übertrieben“, theatralisiert, wenn man so will. Auch der ursprünglich vorgesehene Schluss, der dann nur in der amerikanischen Fassung des Films gezeigt wurde, ist von dieser „Überzeichnung“ geprägt: Knab und Mutter Küsters versuchen durch einen Sitzstreik, die Redaktion zu zwingen, den Artikel über ihren Mann zu dementieren. Knab wird es zu langweilig, als alle Mitarbeiter der Zeitung die Redaktion abends verlassen, und er geht mit der Bemerkung, man hätte lieber mit Waffen auftauchen sollen (s. Zitat am Anfang dieses Beitrags). Allein sitzt Emma Küsters in der Redaktion, und auch Corinna kann sie nicht zum Gehen bewegen. Dann erscheint der Hausmeister und will abschließen. Sie könne ja morgen wiederkommen, meint er, und lädt Emma Küsters zum Essen ein. Der ältere, allein stehende Mann, will mit Emma darüber reden, wie sie doch noch Gerechtigkeit für ihren Mann erreichen kann. Emma ist erfreut. Beide gehen, um „Himmel und Erde“ zu essen.

Trotz dieser beiden grotesken Schlusskapitel steckt in beiden doch gleichzeitig einiges an Tragik über die bundesrepublikanische Gesellschaft der 70er Jahre. Der freundliche Hausmeister ist dabei eine Art kaum „Katalysator“, um der Geschichte einerseits am Schluss die Schärfe zu nehmen – geradezu eine Märchengestalt, die an dieser Stelle kaum zu erwarten gewesen wäre –, andererseits weist er Mutter Küsters sozusagen einen Weg, der nicht unbedingt Erfolg verspricht, aber eben der einzige ist, den Emma Küsters gehen kann, um selbst nicht in irgendeiner Weise Schaden zu nehmen: Nachdenken, wie man Gerechtigkeit erreichen kann, ohne sie erzwingen zu wollen. Gerade hier, in diesem Schluss, tritt die ganze Menschlichkeit eines Regisseurs wie Fassbinder offen zutage.

Der andere Schluss ist vor allem deshalb grotesk, weil in ihm die Widersinnigkeit, Absurdität und (allerdings potentiell gefährliche) Lächerlichkeit einer politischen Linken zum Ausdruck kommt, die nach dem Motto „Der selbst erklärte hehre Zweck heiligt alle Mittel“ handelt und dabei in kaum zu überbietender Weise demonstriert, wie man sich über die Bedürfnisse einer Frau wie Mutter Küsters ohne Skrupel hinwegsetzen kann – einer Frau aus der Arbeiterklasse, die man doch vorgibt, vertreten zu wollen. Aber dieses Vertreten ist eben doch mehr ein Treten.

Fassbinder zeigt allerdings auch alle anderen Personen als Protagonisten ihres eigenen Egozentrismus: die karrieregeile Tochter, den feigen Sohn, die biedere Schwiegertochter, den skrupellosen Journalisten, das ebenso biedere DKP-Pärchen. In solcher Umgebung ist eine Frau wie Mutter Küsters verloren. Der Himmel tut sich auf – in der ursprünglichen Fassung als Essen „Himmel und Erde“ (ein Blutwurstgericht mit Äpfeln, Kartoffel und Speck), das für eine Art Versöhnung steht, wobei gleichzeitig aber Emmas Gefühle nicht weiter mit Füßen getreten werden; in der anderen Fassung als Tod Mutter Küsters, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Himmel kommt.

Auch in diesem Film „fasst“ Fassbinder seine Figuren in rahmenähnliche Bilder, sei es in Spiegel, Türrahmen, Fenster usw. Sie sind Gefangene ihrer selbst und einer Gesellschaft, die durch funktionale Elemente und instrumentalistische Strukturen „geordnet“ ist. Weder die DKPisten, noch Niemeyer, Corinna oder Helene und Ernst, aber auch Mutter Küsters können den ihnen „zugewiesenen Rahmen“ entkommen. Im nachhinein betrachtet spult sich die Geschichte ab, wie vorgegeben, geradezu determiniert durch die Mechanismen einer Gesellschaft, in der sich die immer wieder propagierte Freiheit als unmittelbarer wie mittelbarer Zwang, ja als Gefangenschaft offenbart.

Fassbinder zieht gerade in dieser Hinsicht auch durch die Wahl einiger Schauspieler Verbindungen zu anderen seiner Filme, vor allem zu „Martha“, in dem Margit Carstensen und Karlheinz Böhm ein Paar spielten, das sich durch Sadismus (Helmut Salomon) und Masochismus (Martha) auszeichnete. In „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“ spielen beide ebenfalls ein Paar, in dem der Sadomasochismus in ein ideologisches Korsett gepfercht scheint. Die Ideologie scheint die Lösung für Leid und Hinzufügen von Leid geworden zu sein. Nur in der leicht überwiegenden Wortführerschaft Thälmanns (er schreibt Artikel in der „uz“, er sagt Mutter Küsters, was zu tun ist) gegenüber seiner „nachgeordneten“ Frau spürt man noch wie einen Hauch den Wind des Sadomasochismus in der Beziehung zwischen Martha und Salomon.

Brigitte Mira spielt, wie schon gezeigt, eine „einfache“ Frau – aber dieses „einfach“ täuscht, ist eine von der Gesellschaft oktroyierte Sprachregelung, formuliert eine vor allem von den „Intellektuellen“ der Geschichte und den Nutznießern der Vorkommnisse geprägte Distanzierung von Menschen wie Emma Küsters. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Fassbinder als wirklicher und wirkender „Sozialkritiker“, ein in gewisser Weise falsches Wort, weil abgegriffen und abgenutzt, aber dennoch treffend, weil er den Finger tief in die Wunden legt, die eine instrumentalisierende Gesellschaft aufreißt. Emma Küsters gehört zu jener Generation, die es nicht gelernt hat und der verwehrt wurde zu lernen, ihre Umgebung zu durchschauen, die an das Gute im Menschen glaubt und das Böse nicht wahr haben will. Emma ist eine Frau, die ihren Mann verteidigt, der immer nur gearbeitet, nie gemuckt, nie rebelliert hat. Ihr und ihrer Generation stellt Fassbinder eine zur Mode gekommene und verkommene Generation gegenüber, die nur noch von sich selbst eingenommen ist. Und doch enthüllt er damit zugleich ein Stück des sozialen Mechanismus, der bis heute fortwirkt.



In einem Jahr mit 13 Monden
Deutschland 1978, 124 Minuten (DVD: 119 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raben, Martin Rev, Roxy Music, Alan Vega
Director of Photography: Rainer Werner Fassbinder
Montage: Rainer Werner Fassbinder, Juliane Lorenz
Produktionsdesign: Franz Vacek, Rainer Werner Fassbinder

Darsteller: Volker Spengler (Erwin / Elvira Weishaupt), Ingrid Caven (Die rote Zora), Gottfried John (Anton Saitz), Elisabeth Trissenaar (Irene Weishaupt), Eva Mattes (Marie-Ann Weishaupt), Günther Kaufmann (Smolik, Chauffeur), Lilo Pempeit (Schwester Gudrun), Isolde Barth (Sybille), Karl Scheydt (Christoph Hacker), Peter Kollek (Säufer), Bob Dorsay (Selbstmörder), Gerhard Zwerenz (Burghard Hauser, Schriftsteller)

Aufgezwungene Anonymität

„Jedes siebte Jahr ist ein Jahr des Mondes.
Besonders Menschen, deren Dasein
hauptsächlich von ihren Gefühlen bestimmt
ist, haben in diesen Mondjahren verstärkt
unter Depressionen zu leiden, was
gleichermaßen, nur etwas weniger
ausgeprägt, auch für Jahre mit dreizehn
Neumonden gilt. Und wenn ein Mondjahr
gleichzeitig ein Jahr mit dreizehn Neumonden
ist, kommt es oft zu unabwendbaren
persönlichen Katastrophen.

Im 20. Jahrhundert sind es sechs Jahre,
die von dieser gefährlichen Konstellation
bestimmt sind, eines davon ist das Jahr
1978. Davor waren es die Jahre 1908,
1929, 1943 und 1957. Nach 1978 wird
das Jahr 1992 noch einmal das Dasein
vieler gefährden.“

Ein Verlorener. Einer, der schwimmt, aber nirgendwo ankommt. Einer, der mit sich selbst und mit anderen nicht im Reinen ist. Einer, der seine Identität sucht und nicht finden kann. Elvira hieß einmal Erwin, Erwin Weishaupt. Erwin war nicht schwul, sondern fühlte sich als Frau. Die große Liebe zu einem Mann veranlasste Erwin dazu, seine ihn belastende Männlichkeit abzustreifen, um zur Frau zu werden. Aber die große Liebe war einseitig, und so floh Erwin / Elvira.

Elvira (Volker Spengler) ist eine Geschlagene, eine, die viele für einen schwulen Mann halten, weil sie äußerlich noch wie ein Mann wirkt, obwohl sie Frauenkleider trägt. Aber darunter verbirgt sich nichts Männliches mehr. Und als einige Männer dies merken – so beginnt der Film – schlagen sie Elvira zusammen. Die letzten fünf Tage ihres Lebens bekommen wir zu sehen.

Nach einiger Zeit kommt Christoph (Karl Scheydt) nach Hause, mit dem Elvira jetzt lebt. „Du bist ein Ding. Völlig überflüssig“, beschimpft Christoph Elvira, mit der er bislang zusammenlebte. Elvira fange nichts mit ihrem Leben an, sei langweilig. Christoph trennt sich von Elvira. Nur der weiße Engel, die gute Fee, die rote Zora (Ingrid Caven) hat Mitleid mit Elvira – in diesem Jahr mit 13 Neumonden. Zora, die Prostituierte, legt sich zu ihm, streichelt ihn, tröstet ihn. Und Elvira erzählt von ihrer Ehe mit Irene (Elisabeth Trissenaar) und der gemeinsamen Tochter Marie-Ann (Eva Mattes). Gemeinsam durchwandern Elvira und Zora ein Schlachthaus. Man sieht die Tötung der Tiere und hört Elvira erzählen und Goethe zitieren. Wie in einem Alptraum durchmisst Elvira ihr Leben, das weniger wert zu sein scheint wie das der Kühe, die hier an den Haken hängen, ihr Blut lassen, denen die Köpfe abgeschlagen werden, denen die Haut abgezogen wird, als wenn es nichts wäre.

Elvira ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, in einem „System der belohnten Lügen“, wie Schwester Gudrun (Lilo Pempeit) es selbst tituliert, als Elvira mit Zora an die Stätte seiner Kindheit zurückkehrt. Sie erzählt davon, wie tief enttäuscht Erwin damals war, als seine leibliche Mutter verhinderte, dass er adoptiert wurde, obwohl sich potentielle Eltern gefunden hatten, die ihn nehmen wollten.

„So lebte das Kind lange Jahre
in einer praktischen Hölle,
zusätzlich verachtet,
da er es gelernt hatte,
nicht zugrunde zu gehen
in dieser Hölle,
eher schon, ihre Schrecken
konsequent zu genießen.“
(Schwester Gudrun über Erwin)

Die Ehe mit der Lehrerin Irene ging schief. Irene ist es, die Elvira nun schwere Vorwürfe macht, weil sie in einem Interview mit dem Journalisten Hauser (gespielt von dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz) den Spekulanten Anton Saitz (Gottfried John) schwer angegriffen hatte. Elvira verspricht, mit Saitz zu reden, sich zu entschuldigen. Auf dem Weg zu Saitz begegnet Elvira einem Säufer (Peter Kollek), der sein Leben damit verbringt, vor Saitz Hochhaus zu stehen und über den skrupellosen Spekulanten zu schimpfen und zu lästern, und einem Selbstmörder (Bob Dorsay), der sich im leeren 15. Stock jenes Hochhauses erhängen will, mit Elvira noch isst und ihr mit auf den Weg gibt:

„Der Selbstmörder gibt nicht
das Leben auf, sondern nur
den Willen zum Leben, das
ihm seine Erscheinungen
aufzwingt.“

Das Code-Wort „Bergen-Belsen“ verschafft Elvira Zutritt zu Saitz, der aus Langeweile und Überdruss mit seinen Leuten dreimal in der Woche Überfälle auf sich inszeniert und dem es herzlich gleichgültig ist, was Elvira in besagtem Interview über ihn geäußert hat, der mit Elvira nach Hause geht, mit Zora schläft – auch mehr aus Langeweile. Saitz war der Mann, wegen dem Elvira zur Frau wurde. Saitz war es, der sie fallen ließ.

Niemand will mit Elvira sprechen, auch der Journalist Hauser nicht, den sie aufsucht. Elvira schneidet sich schließlich die Pulsadern auf, nachdem ihr auch Irene bestätigt hat (was Elvira insgeheim längst wusste, obwohl sie wieder „Mann“ sein wollte und die Frauenkleider ablegte), dass ein Zurück zu Frau und Kind nicht mehr möglich ist. Dieser Tod liegt so konsequent in Elviras Lebensweg, wie etwas nur konsequent sein kann.

„In einem Jahr mit 13 Monden“ ist ein Horrortrip, für Elvira und für den Zuschauer. Fassbinder „verpackt“ die Geschichte von Erwin / Elvira in eine Art astrologischen Traum. 1978, eines der Jahre mit 13 Neumonden, muss das Jahr sein, in dem Elvira stirbt. Diese schicksalhafte Untermauerung der Geschichte korrespondiert mit dem unterschwelligen Grundton des Filmes, in dem Elvira / Erwin von allen verlassen wird, in dem keiner ein wirkliches Gespräch mit ihr führen will, in dem sie weder vor, noch zurück, weder als Frau, noch als Mann leben kann. Selbst der „Engel“, die rote Zora, kann Elvira nur trösten, ihr aber nicht wirklich helfen.

Elvira – das könnte der Beckmann aus Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ sein. Dieser Beckmann jedoch, der wusste noch, warum er sterben wollte. Er hatte einen Grund: den Krieg, den Tod, den Mord, die Gleichgültigkeit. Aber am Schluss kommt ihm die Erkenntnis:

„Und die Menschen gehen an dem Tod
vorbei, achtlos, resigniert, blasiert,
angeekelt und gleichgültig, gleichgültig,
so gleichgültig! Und der Tote fühlt tief
in seinen Traum hinein, dass sein Tod
gleich war wie sein Leben: sinnlos,
unbedeutend, grau. Und du – du sagst,
ich soll leben! Wozu? Für wen?
Für was? Hab ich kein Recht auf
meinen Tod? Hab ich kein Recht
auf meinen Selbstmord? Soll ich
mich weiter morden lassen und
weiter morden? Wohin soll ich denn?
Wovon soll ich leben? Mit wem?
Für was? Wohin sollen wir denn
auf dieser Welt! Verraten sind wir.
Furchtbar verraten.“

Beckmann war verdammt zu leben. Elvira aber, dieser Beckmann der 70er Jahre, diese Unidentifizierbare der öden Großstadt Frankfurt, die zwischen kleinbürgerlicher Existenz, sozialer Kälte und Gleichgültigkeit hin- und hergerissen wird, Elvira scheint keinen Ursprung und kein Ende zu haben. Sie stellt dieselben Fragen, sie bekommt keine Antworten – wie Beckmann. Und doch ist sie auf gewisse Art verlorener als er. Der Tod ist für sie die einzige Antwort auf das Leben. Das Leben hat ihr Stempel aufgedrückt, ohne sie zu fragen.

In dieser Hinsicht ist Erwin / Elvira ein Produkt der spezifischen Großstadt der Nachkriegszeit, die den Menschen vor allem einen Stempel aufdrückt: Gesichtslosigkeit und Geschichtslosigkeit. Geschichte, auch persönliche Beziehungen, ja selbst Fassbinder und seine Filme selbst, erscheinen nur noch als Produkt medialer Techniken, wie in der Szene, als Zora bei Elvira – mit verzweifeltem Gesicht – Fernsehen schaut. Das individuelle Defizit an Ursprung, Tradition, Herkunft, Charakter ist Produkt einer Epoche, in der Geschichte keine Bedeutung mehr zu haben scheint. Wie die zum Himmel ragenden Betonklötze die Vergangenheit haben scheinbar verschwinden lassen, baut sich in den Menschen Trostlosigkeit und Gleichgültigkeit durch vermeintliche Zeitlosigkeit auf, die sie zu lebenden Säulen erstarren lässt. Wolfgang Borcherts Beckmann hatte noch eine Vergangenheit, wenn auch eine grausame, nihilistische. Wer aber wie Elvira keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft. Während Beckmann zum Leben verdammt ist, ist Elvira zum Tod verurteilt.

In dem umstrittenen Theaterstück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ (1976 unter dem Titel „Schatten der Engel“ von dem schweizerischen Regisseur Daniel Schmid verfilmt), das wegen angeblich antisemitischer Tendenzen 1975 abgesetzt worden war und zehn Jahre später erneut für einen Skandal sorgen sollte, hatte Fassbinder das Thema Großstadt ebenso aufgegriffen wie die Figur des Anton Saitz (in „Die Stadt ...“:  „der reiche Jude“), der das KZ überlebt hatte und sich nach dem Krieg durch seine Tätigkeit als skrupelloser Spekulant zu rächen suchte. „Bergen-Belsen“ ist das von ihm bestimmte Code-Wort, das nur die kennen, die Saitz sehr nahe stehen, und das diesen den sofortigen Zutritt zu ihm verschafft. Während bei Saitz die Vergangenheit über den Code noch lebendig ist, spielt dies für Elvira keine Rolle mehr. Denn Saitz hat das Interesse an Erwin / Elvira längst verloren.

„In einem Jahr mit 13 Monden“ ist sowohl eine Abrechnung Fassbinders mit Frankfurt, das in den 70er Jahren immer sichtbarer zum Prototyp einer kalten, von Geldgeschäften beherrschten Großstadt mutierte, als auch einer seiner persönlichsten Filme. Sein langjähriger Freund Armin Meier hatte sich kurz zuvor das Leben genommen, nachdem Fassbinder sich von ihm trennen wollte. Für den Regisseur war der Film (bei dem er nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch schrieb und die Kamera führte) ein Zwang, um über diese persönliche Katastrophe hinwegzukommen, mit ihr leben zu können.