Führer Ex
Deutschland 2002, 107 Minuten
Regie: Winfried Bonengel

Drehbuch: Winfried Bonengel, Ingo Hasselbach, Douglas Graham
Musik: Loek Dikker
Director of Photography: Frank Barbian
Montage: Monika Schindler
Produktionsdesign: Thomas Stammer

Darsteller: Christian Blümel (Heiko Degener), Aaron Tristan Hildebrand (Tommy Zierer), Jule Flierl (Beate), Luci van Org (Elisabeth Degener), Harry Baer (Friedhelm Kaltenbach), Dieter Laser (Eduard Kellermann), Jürgen Lingmann (Hagen), Henning Peker (Bonzo), Mathias Freihof (Stasi-Offizier), Dennis Grabosch (Olaf), Max Richter (Psycho)

Ex und Hopp: Zu viel des Guten?

Wer hierzulande – womöglich auch noch ohne belehrenden oder distanzierenden Kommentar – nationalsozialistisches Gedankengut und seine Träger in einer Dokumentation wiedergibt, hat es schwer. Das musste Winfried Bonengel mit seinem Dokumentarfilm „Beruf: Neonazi“ bereits 1993 feststellen. Ob es ihm fast zehn Jahre später mit seinem neuen Film, diesmal einem Spielfilm, der auf (auto)biographischen Erinnerungen von Ingo Hasselbach beruht, besser gehen würde, sollte sich zeigen. Zusammen mit Bonengel hatte Hasselbach, der der neonazistischen Szene einmal angehörte, ausstieg und Mitbegründer von EXIT wurde, 1993 das Buch „Die Abrechnung“ geschrieben. Motive aus dem Leben Hasselbachs sind in Bonengels neuem Film verarbeitet.

Christian Blümel und Aaron Hildebrand spielen die beiden DDR-Jugendlichen und Freunde Heiko und Tommy in den 80er Jahren. Beide gehören der speziellen Null-Bock-Generation der DDR-Jugend an, die sich nicht angepasst haben oder mehr oder weniger gezwungenermaßen in der FDJ oder anderen staatstragenden Gruppierungen herumtreiben, die mehr gelangweilt, als mit irgendeinem Ziel vor Augen durch das triste DDR-Leben schlendern. Nur ein Traum bewegt sie: Flucht und Ausreise nach Australien, dem Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten. Als Tommy übermütig in einem Sportstadium eine DDR-Flagge verbrennt, wird er von Volkspolizisten auf der Flucht angeschossen und landet im Gefängnis. Unterdessen lernt Heiko Beate (Jule Flierl) kennen, die sich in einer Disko herumtreibt, in der West-Musik gespielt wird. Beate ist die erste Frau, mit der Heiko Sex hat. Er verliebt sich in sie. Doch als Tommy plötzlich aus dem Knast wieder kommt, muss Heiko beobachten, wie sein bester Freund auf dem Dach, wo beide ihren vorläufigen Fluchtpunkt gefunden haben, ebenfalls mit Beate schläft.

Beide raufen sich wieder zusammen. Der angeblich von Tommy so gut vorbereitete Fluchtversuch endet vor den Gewehrmündungen der Grenzpolizei. Wegen „Republikflucht“ landen die beiden im Gefängnis. Während Tommy seinen Halt bei dem einsitzenden Neonazi Kaltenbach (Harry Baer) und seinen Anhängern sucht, will Heiko mit diesen Typen nichts zu tun haben. Zunächst vertraut er einem „Obergefangenen“ namens Hagen (Jürgen Lingmann), der sich hilfsbereit gibt und ihn vor dem sexuellen Zugriff eines Zellengenossen rettet, der Heiko später dann aber selbst in der Dusche vergewaltigt. Nach dieser erschütternden Erfahrung schließt sich auch Heiko der Gruppe um Kaltenbach an. Als Heiko seinen ekligen Zellengenossen mit einem Schraubenzieher mehrmals in den Bauch sticht, kommt er für Wochen in Einzelhaft in eine dunkle Arrestzelle. Der Gefängnisleiter erpresst Tommy, eine Verpflichtungserklärung für die Staatssicherheit zu unterzeichnen. Nur wenn er Informationen über Kaltenbach liefere, habe Heiko eine Chance, schnell aus der Einzelhaft entlassen zu werden.

1989. Wende. Tommy hat die Flucht nach Bayern geschafft (heimlich in einer Kiste aus dem Gefängnis) und 1990 kehrt er zurück nach Berlin. Heiko ist inzwischen überzeugter Neonazi im Haus Kaltenbachs. Dann kommt es zu einer Katastrophe, als die Neonazis eine Gruppe von Antifaschisten und Ausländern überfallen ...

Noch immer sind die Gründe, warum vor allem Jugendliche und junge Männer sich neo-nationalsozialistischen Gruppierungen anschließen, ungeklärt, umstritten. Vieles dazu ist gesagt und geschrieben worden. Ein „problematisches soziales Umfeld“, Vereinsamung und Haltlosigkeit, insbesondere bei Jugendlichen aus der Ex-DDR, politisches Desinteresse und politische Desillusionierung in Verbindung mit jugendlicher Rebellion, Selbstschutzmechanismen, Projektion von eigenen Ängsten auf „Andersartige“ (Juden, Ausländer, Behinderte usw.). Und trotzdem gibt es viele Jugendliche, die aus Verzweiflung, Enttäuschung oder Desillusionierung diesen Weg eben auch nicht gegangen sind.

Wie für so viele komplexe und komplizierte Problemlagen wird es wohl auch auf diese Frage keine letztendliche Antwort geben. Bongengel spricht über die seine beiden Hauptdarsteller viel von den oben genannten Motivationen an, aber auch er kann – selbst vor dem Hintergrund der Erfahrungen Ingo Hasselbachs – keine zufriedenstellende Antwort auf diese brennende Fragen geben. Das liegt vielleicht auch daran, dass es keine zufriedenstellenden Antworten auf diese Fragen gibt.

Christian Blümel und Aaron Tristan Hildebrand, zwei Newcomer im Film, leisten hervorragende Arbeit bei ihrer Darstellung von Tommy und Heiko. Sie spielen zwei politisch und auch sonst extrem unbedarfte Jugendliche, denen die DDR-Welt nicht viel bis gar nichts zu bieten hat. Und trotzdem: Obwohl man vermerken kann, dass beide nicht auf den Kopf gefallen sind – der oft aggressive, seinen Frust auf völlig Unbeteiligte projizierende Tommy und der eher introvertierte, sensible Heiko –, ist beider Übergang von desillusionierten Jugendlichen zu Neonazis nicht so ganz nachvollziehbar. Tommy schließt sich im Gefängnis Kaltenbach an – so wohl die Botschaft des Films –, weil er Schutz in der Gruppe sucht. Aber viel zu schnell ist er davon überzeugt, dass die „Juden unser Unglück“ waren und sind. Heiko sucht nach seiner Vergewaltigung ebenfalls Schutz bei Kaltenbach, und mir nichts dir nichts wird er nach der Wende zum hakenkreuztragenden und politischen Unsinn verbreitenden Nazi-Redner und -Schläger. Ebenso rasch hat sich Tommy wieder von der Gruppe losgesagt. Zwar ist der äußere Anlass für diese Distanzierung, dass bei einem Überfall der Neonazis ein junges Mädchen tot geprügelt wird, was Heiko offenbar überhaupt nichts ausmacht, obwohl beide das Mädchen aus ihrer DDR-Zeit noch kennen. Die Gesinnungen und Motive wechseln jedoch allzu schnell, und dazu trägt auch bei, dass Bonengel nach einem wirklich guten Anfang den Film hauptsächlich im Gefängnis spielen lässt – mit klischeehaften Gallionsfiguren der DDR-Staatsmacht. Auch der Neonazi-Führer Kaltenbach wirkt in seiner Verkörperung durch Harry Baer nicht besonders überzeugend. Die ganze Gefängnisgeschichte gerät eher zu einer Szenerie, die herhalten muss, um der Geschichte Auftrieb zu geben.

Auch die Nebendarsteller sind in ihren Charakteren nicht besonders überzeugend. Warum Dieter Laser als Kellermann (der wegen Mordes an seiner Frau einsitzt, die er angeblich zerstückelt in einem Koffer verstaut hatte) in die Geschichte aufgenommen wurde, kann ich nicht so ganz verstehen. Auch Heikos Mutter (Luci van Org) spielt für die Geschichte eigentlich keine entscheidende Bedeutung. Sie interessiert sich nicht sonderlich für ihren Sohn und wesentlich mehr für ihre wechselnden Männerbekanntschaften. Heiko „darf“ sich anhören, wie gut es seiner Mutter dabei nachts geht. Ja und? Zu offensichtlich wird hier die Geschichte des vernachlässigten Sohns eingeführt, wobei jedoch Heikos Mutter vom Drehbuch kein stimmiger Charakter zugeschrieben wurde. Ihre Figur bleibt schwach, schemenhaft.

Auch die Liebesgeschichte zwischen Heiko und Beate dient fast überwiegend als dramaturgischer Kniff, wird kaum überzeugend in die Geschichte integriert. Im Gegenteil: Als Beate Heiko im Gefängnis besucht, gesteht sie ihm ihre Liebe, dass sie ihn vermisst und auf ihn wartet. Heiko verlässt weinend das Besucherzimmer. Der Besuch wäre für ihn doch genug Anlass gewesen, eine Perspektive für die Zeit nach dem Gefängnis zu entwickeln, zumal nach der Wende 1989. Da wartet ein Mensch, eine Frau, die ihn liebt, draußen. Was hätte ihm in dem tristen Gefängnisalltag besseres passieren können? Statt dessen zerwirft er sich mit Beate, die von seinem Nazi-Treiben die Schnauze voll hat.

Heiko und Tommy werden im Film anfangs als zwei Einzelgänger, man könnte fast sagen: Individualisten eingeführt. Dann suchen sie ihr Seelenheil in einer festumrissenen, hierarchischen Clique, und am Schluss sind sie wieder die beiden Individualisten. Mir ging das zu schnell und oft zu holprig über die Bühne. Es scheint, als ob ein Schritt der beiden Hauptdarsteller dem anderen folgt: Aktion – Reaktion – Aktion ...

Vielleicht haben Bonengel und Hasselbach ihren Film aber auch für ein Publikum gemacht, das für derlei filmkritische Bemerkungen nicht zugänglich ist oder sein will, für die Jugendlichen „auf der Straße“. Vielleicht steckt hinter dem Film die Absicht, die Aufmerksamkeit von Menschen über Bilder zu gewinnen, die „aus sich heraus“ überzeugen, Bild für Bild ... Ich habe da ehrlich gesagt meine Zweifel, obwohl in „Führer Ex“ eine Mordsarbeit steckt, nämlich neun Jahre, die Bonengel investierte. Die Musik und die Visualisierung sprechen für eine ausgesuchte „Zielgruppe“.

Tatsächlich kann auch im Scheitern eines Versuchs ein Erfolg liegen. Ich kann nicht beurteilen, wie „Führer Ex“ (das klingt wie Unkraut-Ex: die Probleme wie „Ungeziefer“ scheinbar radikal „ausmerzen“, ein gut Stück nationalsozialistischer Idee) auf Jugendliche wirkt. Bonengel und Hasselbach kämpfen für ihr Anliegen, und auch wenn sie insgesamt – was den Film betrifft – vielleicht vergeblich kämpfen (was heißt schon vergeblich?), kann ihnen das nicht hoch genug angerechnet werden.

Es bleibt ein zwiespältiges Gefühl. Aber welches sollte bei diesem Thema auch sonst bleiben?


EXIT ist eine Organisation, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen beim Ausstieg aus der Neo-Nazi-Szene helfen will. „Die rechtsextreme Szene gibt niemanden frei. Sie  übt Druck auf die Mitglieder der Szene ebenso aus wie auf deren Familienangehörige, droht mit Gewalt und greift zu Verunglimpfungen. Auch Gewaltakte und Terroranschläge sind zu befürchten, wenn ein Mitglied auszusteigen versucht. Jene, die erkennen, dass das Weltbild und das Engagement für rechtsextreme und rassistische Gruppen die gesellschaftlichen und eigenen persönlichen Probleme nicht l ösen kann, die die Unsinnigkeit und Verderbtheit des eigenen Tuns sehen und begreifen, dass rechtsextreme Lösungen in Gewalt und Tötung enden, benötigen Signale und Hilfe von außen. Deshalb kann es wichtig sein, seine bisherige Lebenswelt zu verlassen und eine neue aufzubauen. Dabei versucht EXIT zu helfen. EXIT kann Kontakte vermitteln und praktische Hilfe leisten, kann neue Orientierungspunkte in der Unübersichtlichkeit der demokratischen Gesellschaft geben, kann Eltern von potenziellen Aussteigern zur Seite stehen, aber auch präventiv handeln. 

An wen richtet sich EXIT? 

EXIT kann Jugendlichen und jungen Erwachsenen helfen, die aus der rechtsextremen Szene aussteigen möchten. EXIT richtet sich auch an Eltern von Kindern in rechtsextremen Gruppen, kann sie unterstützen und beraten. Ferner sollen Schulen, Verwaltung, die Polizei und die Jugendhilfe in das Projekt einbezogen werden“ (aus: EXIT).