Herr Wichmann von der CDU
Deutschland 2003, 80 Minuten
Regie: Andreas Dresen

Drehbuch: Andreas Dresen
Director of Photography: Andreas Höfer
Montage: Jörg Hauschild

Darsteller: Herr Henryk Wichmann und seine potentiellen Wähler und Nicht-Wähler

Von Fröschen und Wahlkämpfern

An einer Stelle in Coppolas „Der Pate“ (Teil 3) (1990) heißt es aus dem Munde eines Mafiosi: „Politik und Kriminalität sind ein und dasselbe.“ Sind Politiker Verbrecher? Nein, sicherlich nicht. Denn ihre spezifische Tätigkeit ist durch eine Unmenge von Gesetzen, Regeln, Verordnungen usw. legalisiert, während die Tätigkeit der Mafia nun wahrlich keine rechtliche Verankerung besitzt.

Man könnte das Thema damit für erledigt betrachten. Und es war sicherlich nicht Andreas Dresens Absicht, einen Politiker, noch dazu einen namentlich genannten und einen, der zum Hauptdarsteller seines neuen Films wurde, als Verbrecher zu inszenieren. Nach seinem grandiosen tragikomischen und halb-dokumentarischen Film „Halbe Treppe“ (2002) kehrte Dresen mit „Herr Wichmann von der CDU“ zum Dokumentarfilm zurück. Aber was heißt schon Dokumentarfilm. Jeder Film ist geschnitten, jedes Bild ausgewählt, jede Montage von Bildfolgen inszeniert. Um was geht es? Vordergründig und hintergründig um den Wahlkampf eines Außenseiters von der CDU.

Henryk Wichmann, Mitglied der CDU, ist jedenfalls – so paradox das klingen mag – ein Außenseiter. In einem von der SPD beherrschten Wahlkreis, der Uckermark im Osten der Bundesrepublik Deutschland, tritt er, ein junger engagierter Politiker (25 Jahre alt), der noch Jura studiert und seinen Wahlkampf selbst, aus eigener Tasche und mit Spenden wohlmeinender Sympathisanten, finanzieren muss, nicht nur gegen einen SPD-Kandidaten (Markus Meckel) an, der bei der letzten Bundestagswahl über 50% errungen hatte, während die CDU an der 20%-Marke fast scheiterte. Wichmann befindet sich im Sommer 2002 auch in einem Wahlkreis, der eine Art Eigendasein fristet: Die Uckermark ist eines jener Gebiete, die von der Politik, der öffentlichen und vor allem veröffentlichten Meinung brach liegen gelassen wird. Wer interessiert sich für die Uckermark? Vielleicht ein paar Urlauber und Versprengte? Das Gebiet zwischen Berlin und Stettin im Nordosten Brandenburgs an der Grenze zu Polen ist ein soziales und politisches Dürregebiet: 25% Arbeitslosigkeit, Abwanderung junger Menschen, die hier zu Recht keine Perspektive für ihr Leben sehen usw. Angermünde, Prenzlau, Schwedt, Templin – wer hat von diesen Orten schon einmal etwas gehört?

Irgendwie scheint hier alles aussichtslos, auch für Henryk Wichmann, den Direktkandidaten, der 30% der Erststimmen erreichen will und wohl selbst weiß, dass dies nichts als ein frommer Wunsch bleibt.

Dresen und Andreas Höfer folgen dem jungen Kandidaten, der immer wieder mit der Parole „Frischer Wind bringt Bewegung in die Politik“ seine potentiellen Wählern mobilisieren will, aber sie verfolgen ihn nicht. Wichmann stimmte der Absicht Dresens zu, ließ sich beobachten, machte sich damit zum Hauptdarsteller in einem Film, den er später offenbar ohne Wenn und Aber akzeptierte. Wir sehen Wichmann im Kampf gegen den Wind und im Kampf für Stimmen. Sein Stand, seine Wahlkampfmaterialien sind diesem harten Wind immer wieder ausgesetzt. Aber Wichmann ist, so jung er auch ist, ein Mensch, der sich durch nichts erschüttern lässt. Sein politisches Programm hin oder her – Wichmann ist in gewisser Weise ein bewundernswerter Mensch. In aussichtsloser Situation lässt er sich durch nichts beirren.

Diese Sonderstellung eines Kandidaten – jung, wenig Chancen, dieser Wahlkreis – war Grund für Dresen, sich Wichmann und damit einen CDU-Mann auszuwählen. Ein solcher Film wäre aber genauso gut mit jedem anderen Politiker irgendeiner Partei möglich.

Wichmann diskutiert (oder versucht es zumindest immer wieder) mit Bewohnern eines Altersheims, mit Leuten auf der Straße am Stand, verteilt sein Material samt Kugelschreiber (ohne CDU-Schriftzug, wie er betont) und Streichhölzer, geht in mittelständische Betriebe, redet auf Wahlkampfveranstaltungen, die nicht sonderlich gut besucht sind, sieht sich mit Menschen konfrontiert, die ihm – jeder auf seine Weise – ihre Sorgen schildern, die Ausländer für den Grund allen Übels halten oder – wie ein altgedienter CDU-Mann – der CDU vorwerfen, sie habe sich von dem Sozialen im Begriff „soziale Marktwirtschaft“ verabschiedet. Dresen kommentiert nicht, fragt nicht, nur ab und zu sieht man Wichmann nicht. In einer Szene zeigt Dresen – ganz kurz – einen Frosch. Wichmann setzt auf die Parole: Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für Gewerbeansiedlung kommt vor Naturschutz, und wirft den Grünen vor, sie würden den Naturschutz dermaßen übertreiben, dass eine ganze Region in Arbeitslosigkeit versinke.

Das alles klingt nach Altbekanntem, vielleicht oft Gesehenem, aber dem ist nicht so, wenn man genauer hinsieht. Dresen hält sich, so weit es geht, zurück. Er beschränkt seine Eingriffe auf Schnitt und Montage, wobei die Chronologie der Ereignisse bis hin zum für Wichmann enttäuschenden, aber zu erwartenden Wahlergebnis gewahrt bleibt. Der Film verdeutlicht zwei Ebenen, die des Politischen und die des, ich will es einmal so nennen, Nicht-(mehr)-Politischen. Krasser als in einem offensichtlich vernachlässigten Gebiet wie der Uckermark kann der Gegensatz kaum dokumentiert werden. Am deutlichsten wird dies vielleicht in einer Szene in einem Altersheim, als Wichmann kurz sagt, er wolle hier keine Werbung für sich machen (auch wenn er natürlich sein Material da lässt), mit den alten, oft kranken Menschen spricht, Menschen, die hier sterben werden, die an Alzheimer leiden, sich freuen, wenn sie überhaupt jemand besucht, deren Kinder teilweise nicht mehr zu ihnen kommen: einsame und vereinsamte Menschen in einem Ghetto im Außenbezirk Uckermark. Hier versagt jeder Wahlkampfslogan, selbst wenn Wichmann wollte, würde er ins Leere für sich und seine Partei plädieren. Und da geschieht etwas, was ihm ansonsten nicht passiert. Etwas unbeholfen, weil er seine Wahlkampftaktik beiseite lassen muss, fängt er an, mit diesen Menschen zu reden, ihrer Situation noch irgend etwas Positives abzugewinnen. Manchmal freue man sich auch über die kleinen Dinge, einen Apfel, der vor dem Haus im Garten gepflückt wurde. Wichmann spürt wohl selbst, dass Politik – jedenfalls das, was man darunter heutzutage fast ausschließlich verstehen kann – hier machtlos ist.

Man könnte dies auch anders formulieren: Bei den Menschen in diesem Alters- und Pflegeheim steht der Tod auf der Schwelle, und davor sind Verlassenheit und sicher auch eine Art des Dahin-Vegetierens, des Verlassen-Worden-Seins. Das Leben reduziert sich bei ihnen auf das Minimale, auf den kargen alltäglichen Ablauf der Heimordnung, auf ein Stück Kuchen am Nachmittag, auf das Warten bis zur nächsten Mahlzeit und auf das Warten auf ein wenig Freude zwischendurch.

Wahlkampf versagt hier. Zwischen der emotionalen Situation der Heimbewohner und den Regeln des politischen Wahlkampfs und darüber hinaus der politischen Sphäre besteht an diesem Punkt eine unüberbrückbare Differenz. Wichmann hat zwei Möglichkeiten: Er wendet sich „einfach“ den Menschen zu – was er auch tatsächlich tut, so gut es eben geht –, isst mit ihnen ein Stück Kuchen. Die andere Möglichkeit wäre, seinen Wahlkampf hier fortzusetzen. Das würde gnadenlos verpuffen. Zum Glück ist Wichmann ein Mensch, der das instinktiv spürt und richtig reagiert.

Hier liegt der Hase im Pfeffer: Eine Politik, die gerade in einer solchen Situation machtlos ist, was ist das für eine Politik? Eine ehemalige Ministerin im Kabinett Brandt / Scheel hat in den 70er Jahren einmal auf die Frage geantwortet, was sie in ihrer Familienpolitik als entscheidende Maxime sehe: Zärtlichkeit. Auch das klingt paradox. Politik und Zärtlichkeit? Was Marie Schlei – so hieß die Ministerin – meinte, war wohl: Wenn Politik sich nicht an der emotionalen Befindlichkeit von Menschen orientiere, ihre Gefühle, Sorgen, Ängste, Befürchtungen ernst nehme, müsse Politik in bezug auf diese Menschen scheitern.

Henryk Wichmann ist – ob ihm das bewusst ist oder nicht – Repräsentant einer anderen Politik, eben der, wie wir sie alle kennen. Gegenüber den Ängsten und Nöten, Sorgen und auch teilweise aggressiven Haltungen derjenigen, die er anspricht, hat er im Grunde nur eines zu sagen: Nichts. Die Parolen, die er sich fein säuberlich ausgedacht hat, seine politische Strategie, sein unablässiges Zugehen auf seine potentiellen, gewünschten Wähler hat den merkwürdigen Charakter des Nicht-Kommunikativen. Da reden Wichmann hier, die Menschen dort oft aneinander vorbei, so, als ob sie aus einer anderen Welt stammen. Es sind zwei andere Welten, die sich dort begegnen, in Wirklichkeit aber nicht begegnen. Gegenüber einer Frau, die die Ausländer als Ausgeburt allen Übels erfunden hat, weiß Wichmann nur zu sagen: Die Einwanderungspolitik der Bundesregierung sei falsch; bei ihm und der CDU würde das alles anders werden. Entscheidend wäre aber zu fragen, warum diese Projektionen auf ein Feindbild („Ausländer“) sich herauskristallisiert haben. Dazu ist der Wahlkampf vielleicht nicht geeignet. Doch man spürt, dass diese Frage, die Frage nach Zusammenhang, nach Kontext, nach Bedeutung im Bereich des Politischen so gut wie keine Rolle spielt.

Die Lebenswelt der Menschen in der Uckermark und die Lebenswelt der Politiker – das wird in diesem Film mehr als deutlich – gehorchen völlig unterschiedlichen Regeln, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Doch dieser Bezug der Welten ist ein von der Politik konstruierter. Er strahlt keine Wärme aus, keine Zuneigung, kein Gefühl des Verständnisses und des Verstehen-Wollens. Wichmann repräsentiert eine Politik der Macht, des Machterhalts und des Machtgewinns. Wahlkampf ist wie Zirkus. Alle vier Jahre erscheint er sogar in den entlegensten Regionen, macht ein Riesentrara und verabschiedet sich wieder. Wahlkampf dient nicht den Nöten der Umworbenen, sondern der Macht. Die Kluft zwischen Politik und Privatem, Persönlichem und Öffentlichem, Geschichten von „einfachen“ Menschen und der Geschichte, die die Politik erzählt, ist inzwischen so groß, dass Zusammenhang zwischen beidem nur noch konstruiert werden kann.

Dresen führt Wichmann nicht vor. Er desavouiert ihn nicht, auch wenn manches zum Lächeln reizt. Etwa, wenn der Kandidat vor dem Fernsehen sitzt und Stoiber bei Christiansen zuschaut, während seine junge Freundin, die schwanger ist, auf dem Sofa sitzt, ihn streichelt, offenbar ein bisschen Zärtlichkeit will, und Wichmann grummelt und weiter ins Fernsehen schaut. Kurze Zeit später (hier ein entscheidender Schnitt von Dresen) sieht man Wichmann, der noch immer fernsieht, während seine Freundin eingeschlafen ist.

Sind Politik und Kriminalität ein und dasselbe? Wichmann ist kein Krimineller. Aber was sich in diesem Satz ausdrückt, ist vielleicht die fehlende Ehrlichkeit, der fehlende Zusammenhang der Politik zur Lebenswelt der Menschen, von denen man nur noch Stimmen will, etwas Falsches, Täuschendes, Unechtes, etwas „Strafwürdiges“ in dem Sinne, als es die Ängste und Sorgen dieser Menschen nicht nur vernachlässigt, sondern oft nur in dem Sinne zur Kenntnis nimmt, als es sie instrumentalisiert.

Das alles macht „Herr Wichmann von der CDU“ zu einer sensiblen Dokumentation, ohne dass hier jemand verurteilt oder an den Pranger gestellt würde. Ein Film zum Nachdenken.