Ikiru – Einmal wirklich leben
(Ikiru)
Japan 1952, 143 Minuten
Regie: Akira Kurosawa

Drehbuch: Shinobu Hashimoto, Akira Kurosawa, Hideo Oguni
Musik: Fumio Hayasaka
Director of Photography: Asakazu Nakai
Produktionsdesign: So Matsuyama

Darsteller: Takashi Shimura (Kanji Watanabe), Shinichi Himori (Kimura), Haruo Tanaka (Sakai), Minoru Chiaki (Noguchi), Miki Odagiri (Toyo Odagiri), Bokuzen Hidari (Ohara), Minosuke Yamada (Saito), Kamatari Fujiwara (Ono), Makoto Kobori (Kiichi Watanabe), Nobuo Kaneko (Mitsuo Watanabe), Nobuo Nakamura (Bürgermeister), Yûnosuke Itô (Schriftsteller), Kumeko Urabe (Tatsu Watanabe)

Was ist wahrhaftig?

Da sitzt er – seit 20 Jahren. Jeder Tag ist wie der andere. Jede Handbewegung ist wie die andere. Es kommen Beschwerden herein, und er schaut sie kurz an, drückt einen Stempel auf die Papiere und legt sie auf einen der Haufen auf seinem Schreibtisch. Auch die anderen in seiner Abteilung tun nichts anderes.

Akira Kurosawa (1910-1998) drehte 1952 zwischen „Rashomon” (1950) und „Die sieben Samurai” (1954) unter anderem diesen Film über einen städtischen Beamten, der eine Beschwerdestelle leitet und eines Tages erfahren muss, dass er unheilbar an Magenkrebs erkrankt ist und nur noch maximal ein halbes Jahr zu leben hat. Kanji Watanabe, exzellent gespielt von Takashi Shimura (1950-1982), einem der berühmtesten japanischen Schauspieler, hat es schon lange aufgegeben, Vorschläge für Neuerungen in der Bürokratie zu machen. Es herrscht tödliche Langeweile in den Räumen der Beschwerdestelle, und das einzige, was Watanabe und die meisten anderen am Leben hält, ist ihr Ehrgeiz, ihren Platz dort zu behaupten. Die Beschwerden der Bevölkerung aber werden bürokratisch verhackstückt, portionsgerecht für die Ablage vorbereitet – und sind dann verschwunden.

Kurosawa zeigt eine Bürokratie, schon zu Anfang des Films, die nicht für die Nöte der Bevölkerung existiert, sondern für deren Abwehr. Er zeigt auch eine Bürokratie, in der Hierarchien ausschließlich dazu dienen, die Macht des jeweiligen Bürgermeisters und seiner Nomenklatura zu erhalten – bis zur nächsten Wahl. Und er zeigt eine Bürokratie, auf die die japanische Mafia, die Yakuza, mehr Einfluss haben als jeder andere.

Auch wenn dies zunächst nicht das eigentliche Thema des Films ist, greift Kurosawa diese politische Struktur in „Ikiru” immer wieder auf – entlang der Geschichte des todkranken Watanabe. Als der im Krankenhaus sitzt und auf die Diagnose seiner Magenbeschwerden wartet, erzählt ihm ein anderer Patient, dass er schon oft Menschen hier gesehen habe, denen er am Gesicht habe ablesen können, das sie an Magenkrebs leiden. Diese Szene gehört zu den schönsten und schrecklichsten des Films, in der Watanabe anhand der Schilderung der Symptome der Krankheit bewusst wird, dass er ebenfalls an Magenkrebs leidet – obwohl die Ärzte ihm diese Diagnose verschweigen, angeblich um ihn zu schützen.

Kurosawa schildert nun, wie Watanabe mit dieser Todesnachricht umgeht und wie seine Umwelt auf seinen plötzliche Verhaltensänderungen reagiert. Er zeigt Watanabes Sohn Mitsuo und dessen Frau Tatsu, die beide auf das Geld spekulieren, das Watanabe im Laufe seiner Arbeit gespart hat. Beide wissen nichts von der tödlichen Krankheit, und Watanabe verschweigt dies auch seinen Kollegen und Bekannten. Plötzlich steht er allein – ganz allein in einer Welt, die er nicht mehr begreifen kann. Er steht sozusagen unvorhergesehen „außer sich“, so als ob er sich und seine Umgebung „von außen“ beobachten könnte. Es ist dieses „Außer-Sich-Sein“, das es ihm ermöglicht, den Schleier von seinem bisherigen Leben zu nehmen.

Er merkt wohl, wie berechnend und kalt sein Sohn und seine Schwiegertochter sind, er geht nicht mehr zur Arbeit und besucht statt dessen eine Kneipe, in der er einen Schriftsteller trifft, dem er von der Krankheit erzählt. Watanabe will sein Erspartes ausgeben, um in den letzten ihm verbliebenen Monaten das Leben zu genießen. Der Schriftsteller zeigt ihm die Orte, an denen man „das Leben genießen” kann: schummrige Kneipen, Tanzlokale, Prostituierte, Spielhöllen, Stripteasetänzerinnen usw.

Doch immer wieder erinnert sich Watanabe während dieser Ausflüge in die Vergnügungsviertel an seine verstorbene Frau, an seinen Sohn, als er noch jünger war, an die Hoffnungen und Sehnsüchte, die im Laufe der Zeit völlig erstorben sind. Und es wird ihm klar, wie er sein Leben durch die Tätigkeit, die er 20 Jahre lang ausgeübt hat, vergeudet, ja geradezu weggeschmissen hat – in gutem Glauben, aber auch in der Beengtheit von Hierarchien.

Und er merkt, dass die Vergnügungsviertel ihm nicht über den Schmerz seines Lebens und den Schmerz seines nahen Todes hinweghelfen können. Auch die junge Kollegin Toyo, die ihn aufsucht, damit er deren Kündigung gegenzeichnet, ist ihm letztlich kein Trost. Watanabe merkt bald, dass der Kontakt mit der jungen Frau ihm nur teilweise Trost schafft, weil sie ihn an die Jugend, an das Lebendige, das Ungestüme erinnert. Doch Watanabe ist nicht mehr jung.

Und dann, dann endlich kommt ihm die rettende Idee. Er erinnert sich an eine Beschwerde von Müttern, die für ihre Kinder endlich einen Spielplatz haben wollten. Auf dem Gelände, wo der Spielplatz entstehen soll, allerdings wimmelt es von Moskitos. Jetzt weiß Watanabe, was er zu tun hat.

Kurosawa zeigt uns also in eindrücklichen Bildern und durch einen überzeugenden Hauptdarsteller den Weg eines Mannes in einen sinnvollen Tod nach einem sinnentleerten Leben. Er zeigt einen Watanabe, der in den letzten Monaten seines Lebens nicht mehr locker lässt, von Pontius zu Pilatus rennt, nur um eines zu erreichen: dass der Kinderspielplatz gebaut wird. Er nervt seine Vorgesetzten, einschließlich des Bürgermeisters, er weicht auch nicht vor den Yakuza zurück. Watanabe „holt nach“, was er bislang versäumt hat, handelt, wie er hätte immer handeln sollen.

Und in diesem Moment wechselt Kurosawa die Szenerie. Anstatt in der zeitlichen Abfolge weiterzugehen und den Kampf Watanabes mit der Bürokratie zu zeigen, wechselt er zu der zentralen Szene des Films nach dem Tod des Beamten: die Totenfeier, bei der selbst der Bürgermeister anwesend ist, natürlich Watanabes Kollegen, sein Sohn, seine Schwiegertochter, sein Bruder und dessen Frau. Der tote Watanabe ist ein Held in den Augen der Bevölkerung und eine Gefahr für den reibungslosen Ablauf der Bürokratie. Alle Anwesenden, bis auf Watanabes Kollegen Saito, bestreiten die Verdienste des Toten, reden sie klein, reden ihn klein. Sie sitzen sich in zwei Reihen gegenüber, das Bild Watanabes an der Frontseite des Raumes – und heucheln, lügen, bestreiten, lachen. Vor allem aber haben sie Angst – Angst davor, dass die machthungrige Bürokratie mit dem Bürgermeister an der Spitze, an der alle ihren (wenn auch noch so kleinen) Anteil haben, wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Sie trinken, trinken viel. Und je mehr sie trinken, desto mehr bekommt das Lügengebäude, das sie sich selbst gezimmert haben, Risse – bis sie am Schluss alle zugeben müssen, dass der Tote eine Art Held war.

Kurosawa zeigt tatsächlich einen Helden. Nicht so sehr einen Helden des Alltags, sondern einen des Lebens und des Todes. Ein bisschen ist dieser Watanabe wie wir alle, ein „normaler” Bürger, einer, der sich angepasst hat, der es längst aufgegeben hat, für Neuerungen und Verbesserungen einzutreten, geschweige denn zu rebellieren. Im Angesicht des eigenen Todes aber rebelliert er, nicht auf eine ungestüme oder gar destruktive Art. Nein, er rebelliert, indem er die Bürokratie, die eigene Bürokratie eine Zeitlang von innen aushöhlt: durch ein gehöriges Maß an Standhaftigkeit, an Unbeugsamkeit, an Eigensinn – ohne Rücksicht auf irgendwelche persönlichen Konsequenzen. Der nahende Tod – das zeigt Kurosawa in Rückblenden während der Totenfeier – verschafft Watanabe die letzte Chance auf etwas Sinnvolles, etwas Bedeutendes in seinem nur noch kurzen Leben. Ruhig, gelassen, ohne Aufregung geht er seinen Weg, bis der Spielplatz endlich gebaut ist.

Kurosawa verknüpft damit ein Einzelschicksal mit dem Schicksal einer Gemeinschaft, die von einem scheinbar übermächtigen und korrupten politischen Apparat beherrscht wird. So ein bisschen schimmern in diesen Szenen die Gestalten der Samurai in der Person des Kanji Watanabe durch, die in vielen anderen Filmen des Regisseurs eine große Rolle spielen – nicht jener Samurai, die sich zu bestialischen Horden entwickeln, sondern jenen Einzelkämpfern, die aus der Verzweiflung ihres eigenen Lebens, aber auch aus einer tiefen Erkenntnis über das Leben selbst heraus sich dazu entschließen, „die gute Tat” zu vollbringen, jenen zu helfen, die es nötig haben.

Dabei stilisiert Kurosawa Watanabe jedoch nicht zu einem jener Helden etwa des Hollywood-Kinos, in dessen Präsentation das Heldentum gepflegt wird, also jenes leere, hohle Bild eines Bilder-Helden, der mit der Wirklichkeit nichts mehr gemein hat. Watanabe bleibt bis zum Schluss ein einfacher Mann, einer aber, der erkannt hat, dass das Leben, sein Leben einen sozialen Sinn haben muss, und zwar so, dass auch für ihn persönlich ein Sinn in sein Leben kommt und dieses wahrhaftig wird. Zugleich lässt Kurosawa jedoch auch Zweifel daran aufkommen, ob das Leben in der Moderne überhaupt einen Sinn hat, wenn dieser sich für den Durchschnittsmenschen nur im Angesicht des Todes realisieren lässt.

Zudem bleibt die Geschichte auch insofern realistisch, als sich in der Bürokratie aufgrund der Feigheit und des Duckmäusertums der anderen Bürokraten nichts ändert. Nur im Suff gestehen sie sich ein, dass nicht der Bürgermeister, sondern Watanabe ihr Vorbild sein müsste. Was bleibt, ist das Schlussbild, in dem man Saito sieht, der immer mal wieder zu dem Spielplatz geht, für den Watanabe gesorgt hat. Eine geringe Hoffnung, aber immerhin ein Schimmer von Hoffnung. Eine, die da lautet: Vielleicht folgt Saito irgendwann einmal den Spuren Watanabes.

© Bilder: Pegasus Home Entertainment
Screenshots von der DVD.