Innocence
(Innocence)
Australien, Belgien 2000, 94 Minuten
Regie: Paul Cox

Drehbuch: Paul Cox
Musik: Paul Grabowsky
Director of Photography: Tony Clark, Jan Vancaillie
Montage: Simon Whitington
Produktionsdesign: Tony Cronin

Darsteller: Julia Blake (Claire), Charles Tingwell (Andreas), Kristien Van Pellicom (die junge Claire), Kenny Aernouts (der junge Andreas), Terry Norris (John), Robert Menzies (David), Marta Dusseldorp (Monique), Charles Haywood (Minister), Norman Kaye (Gerald), Joey Kennedy (Sally), Liz Windsor (Maudie)

Die Liebe hinter der Dornenhecke

Das Drehbuch des australischen Regisseurs Paul Cox wird in manchen Filmkritiken als bemüht, die Geschichte als harmlos und der ganze Film eher als eine Veranstaltung für Oma und Opa abgetan, der keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Andere Attribute, die dem Film zugeschrieben werden, lauten: gebremst, artig, zu still, diszipliniert, seltsam konventionell, von einer gewissen Banalität und mancher Peinlichkeit begleitet. Paul Cox erzählt eine – wie man so schön sagt – allem äußeren Anschein nach minimalistische Geschichte über zwei Menschen, die das Alter von 60 überschritten haben. Gespielt werden sie von der 65jährigen Julia Blake und dem 78jährigen Charles Tingwell, den manche vielleicht noch von seiner Rolle als Inspektor Craddock in den Miss-Marple-Filmen der 60er Jahre mit Margaret Rutherford kennen.

Doch der äußere Minimalismus der Geschichte täuscht angesichts der Änderungen, die sich im Leben der beiden Hauptpersonen abspielen und welche Bedeutung sie für beide haben. „Innocence“ ist nicht einfach großes Gefühlskino. Cox hält sich fern von sentimentalem Kitsch oder Sitcom-Atmosphäre. Er konzentriert sich auf die Frage, was zwischen Menschen letztlich wirklich zählt und was als Banalität und Unwichtigkeiten abgetan werden kann.

Cox erzählt die Geschichte von Claire (Julia Blake), die seit vier Jahrzehnten in einer nicht unglücklichen, aber eben auch nicht glücklichen, also „komfortablen“ Ehe mit John (Terry Norris, Julia Blakes Ehemann in the real life) lebt, und von dem ehemalige Musiklehrer Andreas (Charles Tingwell), der seit 30 Jahren Witwer ist, mit einer Frau verheiratet war, die er geliebt hatte. Beide hatten sich als junge Menschen 50 Jahre zuvor kennen und lieben gelernt. Aber nicht näher erläuterte Umstände trennten sie damals in Belgien. Andreas hat nun herausgefunden, dass Claire wie er in Adelaide (Australien) lebt. Er schreibt ihr einen Brief, der für Claire mehr als deutlich werden lässt, dass Andreas sie nicht nur nicht vergessen hat, sondern noch immer starke Zuneigung für sie empfindet.

Sie treffen sich, erinnern sich – Cox zeigt in kurzen Rückblenden die junge Claire (Kristien Van Pellicom) und den jungen Andreas (Kenny Aernouts) – und stellen fest, dass sie sich trotz all der langen Jahre, die sie sich nicht mehr gesehen haben, immer noch lieben. Andreas Tochter Monique (Marta Dusseldorp) und Claires und Johns Sohn David (Robert Menzies) halten sich der neuen Beziehung gegenüber zurück, auch wenn David sich ernsthafte Sorgen macht, was die Ehe seiner Eltern angeht. John kann seine Frau zunächst nicht verstehen. Er hält beider Ehe für normal und liebt seine Frau. Er hat nicht bemerkt, dass sich in ihre Beziehung zu viel Routine eingeschlichen hat, seit Jahren haben er und Claire nicht mehr miteinander geschlafen, seit Jahren läuft ein Tag wie der andere ab.

Claire und Andreas genießen ihr Glück. Als sie das erste Mal miteinander ins Bett gehen, sagt Claire: „Wenn wir dies jetzt tun – lass es uns wie Erwachsene tun. Schließe zuerst die Vorhänge und dann deine Augen.“ Andreas nimmt Claire bei sich auf ...

In den meisten Mainstream-Filmen der Abteilung „Romantische Komödie“ führt Sex zur Liebe. In „Innocence“ ist es umgekehrt. Als Andreas seiner Tochter gegenüber äußert, im Leben zähle nur die Liebe, alles andere sei zweitrangig, unwichtig, banal und würde nur für so wahnsinnig wichtig gehalten, entgegnet ihm seine Tochter, das sei naiv. Andreas erwidert ihr wie selbstverständlich: „Es ist naiv zu glauben, es sei nicht so.“ „Innocence“ handelt nicht von einem naiven Glauben an die Liebe, sondern von tief empfundenen Gefühlen der Zuneigung zwischen zwei Menschen, die mit Worten nur schwer beschreibbar sind.

Eine Szene des Films ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Der Friedhof, auf dem Andreas Frau begraben ist, soll einem Bauprojekt weichen; die Toten müssen umgebettet werden, die Angehörigen müssen bei diesem Vorgang anwesend sein. Andreas steht vor dem Grab seiner Frau. Deren Überreste werden aus dem Grab in einen neuen Sarg gelegt. Für Andreas ist dies ein Schock, nicht weil er Knochen sieht, sondern weil er sich in diesem Moment an seine geliebte Frau erinnert. Er phantasiert, wie sie ausgesehen hat, sieht sie in dem Zustand, wie er sich an sie erinnert, in dem Sarg liegen und bricht fast zusammen. Das hat nichts Rührseliges, nichts Kitschiges an sich, aber etwas zutiefst Melodramatisches im besten Sinn.

„Innocence“ handelt von Erinnerungen. Claire wie Andreas erinnern sich nicht an Banales, an Fakten und Daten, an Zeitumstände, an äußerliche Ereignisse. Ihr Erfahrungshorizont wird geprägt von einer in beiden tief verankerten Erinnerung an ihre Liebe, als sie jung waren, an eine Zuneigung, die sich in vielen Kleinigkeiten, in Berührungen, in Blicken, im Lachen, im Weinen, im Trauern, in Wehmut und vor allem in unbeschreiblich glücklichen Momenten manifestierte.

Man könnte in diesem Kontext von einer gewissen Weisheit des Alters sprechen, die beide prägt. Doch das wäre zu simpel. Es ist eher die Tatsache, dass sie genau diese Erlebnisse nicht vergessen haben, dass der Alltag, Verpflichtungen, Arbeit, eingeschliffene Verhaltensweisen, routinierte Vorgänge, gelerntes Reagieren in bestimmten Situationen usw. – das all dies die tiefen Empfindungen ihrer Liebe im Laufe der Zeit nicht überwuchert, nicht beherrscht haben. Claires Ehemann John ist der Kontrapunkt in dieser Hinsicht. Er hat nicht einmal bemerkt, dass in seiner Erinnerung, das, was wirklich und letztlich ausschließlich zählt, zugewachsen ist. Trotzdem stellt Cox ihn nicht als Negativbeispiel dar, er verurteilt John nicht.

Es gibt das schöne Märchen von Dornröschen. Das Schloss ist umgeben von einer scheinbar undurchdringbaren dichten, dornigen Hecke. Alle im Schloss sind in einen tiefen Schlaf gefallen. Alle möglichen Prinzen sind bei dem Versuch, die Hecke zu durchtrennen, elend gestorben. Nach hundert Jahren kam wieder ein Königsohn vorbei und ward von einem alten Mann gewarnt:

„Da sprach der Jüngling: ‘Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen !’ Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte. Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schlosshof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lagen der König und die Königin.

Da ging er noch weiter, und alles war so still, dass er seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuss. Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz freundlich an.“

Der Jüngling will die Liebe „sehen“, und er fürchtet sich nicht vor ihr. Und weil er sich nicht vor ihr fürchtet, öffnet sich die Hecke wie von allein. „Innocence“ erzählt eine sehr ähnliche Geschichte, aber nicht als Märchen verklausuliert, sondern als reale Begebenheit, die die Essenz z.B. dieses Märchens aber niemals vergisst. Claire und Andreas haben nichts, was wesentlich ist, vergessen. Genau dies ist der Grund dafür, dass ihr Erwachsensein und ihr hohes Alter nicht von einem Vergessen ihrer Kindheit begleitet ist. Sie sind in gewisser Hinsicht „eins“, das heißt, sie waren nicht Kinder und sind jetzt etwas anderes, Erwachsene. Ihr Erwachsensein dokumentiert nicht eine Art „Überwindung“ der Kindheit und Jugend, sondern deren „richtige“ Einordnung in ihr Leben. Das ermöglicht ihnen im übrigen auch noch etwas anderes. Der für beide sehr nahe Tod – Andreas hat ein Krebsleiden, das er Claire verheimlicht, Claire ist herzkrank – ist Teil ihres Lebens. Sie haben den Tod in sich akzeptiert, weil – so paradox das klingen mag – sie die Liebe als das Wesentliche in ihrem Leben begriffen haben. Ihre Liebe, das ist diese bedingungslose, voraussetzungslose Zuneigung, von der viele Menschen vielleicht träumen, sie aber nicht leben können, weil andere Dinge wie die dichte Hecke in „Dornröschen“ die Liebe in ihnen verborgen hat. Diesen Schatz ihres Lebens haben sich Claire und Andreas erhalten.

Charles Tingwell und Julia Blake spielen diese beiden Figuren derart eindringlich und lebensnah, dass es eine Freude ist, ihnen zuzusehen.

Ein Film für Opa und Oma? Nun, junge an Mainstream-Kino und anderen Mainstream im Leben gewohnte Menschen werden vielleicht zu diesem Schluss kommen. Umso bedeutender ist dieser Film. Denn wir haben uns alle zu sehr daran gewöhnt, die Lebensstadien Kindheit, Jugend, mittleres und hohes Alter fein säuberlich wie eigene Leben voneinander zu trennen. Jedem dieser Lebensstadien werden eigene Regeln, Gesetze und ähnliches angedichtet, wo es sich nur um relative Änderungen oder Veränderungen handelt. Was für die einen „gilt“, „gilt“ für die anderen nicht. Solche Trugschlüsse verleiten vielleicht dazu, die Liebe zwischen Andreas und Claire als albernen Rückzug in Teenager-Allüren zu desavouieren. Aber dies ist eben auch nur ein Trugschluss.

© Bilder: Columbia TriStar Home Video