La Ciénaga - Der Morast
(La Ciénaga)
Argentinien 2001, 103 Minuten
Regie: Lucrecia Martel

Drehbuch: Lucrecia Martel
Director of Photography: Hugo Colace
Montage: Santiago Ricci
Produktionsdesign: Graciela Oderigo

Darsteller: Mercedes Morán (Tali), Graciela Borges (Mecha), Martín Adjemián (Gregorio), Leonora Balcarce (Verónica), Silvia Baylé (Mercedes), Sofía Bertolotto (Momi), Juan Cruz Bordeu (José), Andrea López (Isabel), Daniel Valenzuela (Rafael), Fabio Villafane (Perro)

Versunken ...

Gläser klirren laut. Es donnert. Stühle werden gerückt. Kinder spielen in der Nähe. Rotwein fließt. Es ist schwül. Eine geradezu gespenstische Atmosphäre tut sich auf. Vor dieser Geräuschkulisse sieht man am Pool Frauen und Männer liegen. Kinder verfolgen eine Kuh, die im Morast versinkt und später elendig zugrunde geht. Sie werden auf die tote Kuh schießen. Die Kinder sind für sich, die Erwachsenen auch, die Frauen sind für sich, und die Männer spielen eh keine besondere Rolle.

Wir sind mitten drin in zwei dieser typischen (?) argentinischen Mittelklassefamilien. Geld ist wahrscheinlich genug da, Langeweile auch – wobei der Begriff Langeweile die chronische Stimmung vielleicht nicht hinreichend beschreibt. Es passiert viel, aber eigentlich passiert nichts. Der Alltag scheint den Lauf der Dinge zu diktieren.

Der Alkohol löst nicht die Zungen. Vor allem Mecha (Graciela Borges), die viel trinkt, bekommt dies zu spüren. Sie säuft regelrecht – und stürzt, verletzt sich an der Brust und im Gesicht, bleibt liegen. Ihr Mann Gregorio (Martín Adjemián) bleibt auch liegen – in seinem Liegestuhl. Tochter Momi (Sofía Bertolotto) und die junge Hausangestellte Isabel (Andrea López) helfen Mecha auf, die sich wehrt, aber nicht darum herum kommt, von den beiden ins Krankenhaus gefahren zu werden.

Auch Mechas Cousine Tali (Mercedes Morán) ist dort, weil eines ihrer vier Kinder sich verletzt hat. Tali schimpft auf Gregorio, der ein Taugenichts sei. Gregorio scheint des öfteren Affären mit anderen Frauen zu haben, u.a. mit einer Arbeitskollegin von José (Juan Cruz Bordeu), dem erwachsenen Sohn Mechas, namens Mercedes (Silvia Baylé) mit der jetzt José eine Beziehung hat.

Im Fernsehen zeigt man eine Frau, die behauptet, an einem großen Wassertank sei ihr die Jungfrau Maria erschienen. Medienrummel. Spekulationen. Ist sie ihr nochmals erschienen?

Und Momi, die versucht, den Überblick zu wahren, fühlt sich zu Isabel hingezogen. Die beiden liegen oft nebeneinander im Bett. Mecha bezichtigt Isabel des Diebstahls, vor allem von Handtüchern. Mecha schimpft auf alle Indios, die nichts taugten, und auf ihren Mann, der nichts tauge.

Die Kinder von Mecha und Tali vergnügen sich am Staudamm, wo sie versuchen, große Fische mit einer Machete zu erschlagen, während Tali und Mecha planen, mit dem Auto nach dem nahen Bolivien zu fahren, weil dort Dinge, die die Kinder für die Schule brauchen, angeblich billiger wären. Doch auch daraus wird nichts werden – wie aus so vielem.

Als sich Mercedes für einen Besuch ankündigt, wird Mecha noch aggressiver, quartiert ihren Mann aus dem Schlafzimmer aus und beschimpft Momi, als die es wagt, die Wahrheit über ihre Mutter zu sagen: Sie sei eine Säuferin und würde wie deren Mutter den Rest ihres Lebens wohl das Bett nicht verlassen.

Der mit der Handkamera gedrehte Film Lucrecia Martels erzeugt eine düster-schwüle, aggressive Atmosphäre. Martel erzählt keine Geschichte im eigentlichen Sinn, zeigt eher ein ausgedehntes Porträt zweier miteinander verwandter argentinischer Mittelklassefamilien, deren ausgesprochener oder auch unausgesprochener Rassismus gegenüber den Indios das einzig Politische zu sein scheint, was diese Menschen auszeichnet.

Der scheinbar gezeigte Alltag entpuppt sich schnell sozusagen als „strukturbedingte Langeweile”, als eine Mischung aus mechanisch eingespielten Verhaltensmustern und einer durchweg fast depressiven Atmosphäre, in der Gefühle – außer den allenthalben zu spürenden unterschwelligen und teilweise aufbrechenden Aggressionen – kaum eine Rolle spielen, ja auch gar nicht spielen können. Die Masse an Kindern – Mecha und Tali und ihre Männer haben jeweils vier –, um die sich ständig zu kümmern ist (oder auch nicht) verdeckt allenthalben die emotionale Ödnis der Verhältnisse. Nur das angebliche Erscheinen der Jungfrau scheint die Agierenden hinter dieser Wand des Schweigens – obwohl viel geredet wird – hervorzuholen, aber auch das nur als Abwechslung in der ansonsten herrschenden Langeweile.

Einzig Momi und Isabel scheinen Ausnahmen zu bilden in diesem Horrorgemälde. Momi fühlt sich zu Isabel hingezogen. Aber sie kann diese Gefühle nicht wirklich verbalisieren oder ausleben. Man weiß auch nicht, ob es die Liebe zu einer Frau (statt zu einem Mann) ist oder der Versuch der liebevollen Verschwisterung in den Zeiten der emotionalen Wüste. Isabel mag Momi, fühlt sich aber dem jungen Perro (Fabio Villafane) verbunden. Momi kann die bestehenden Strukturen nicht aufbrechen. Sie ist 15 Jahre alt und weiß genau, was sie von ihren Eltern zu halten hat: die Mutter eine aggressive Alkoholikerin, der Vater ein zu allem unfähiger Taugenichts, ein Tagedieb, der sich in Egoismus übt – in sonst nichts.

Dass es am Ende zu einer Katastrophe kommt – der kleine Sohn von Tali stürzt von einer Leiter; Isabel verlässt die Familie Mechas mit Perro – verwundert kaum. Denn niemand ist hier für irgend jemand anders da.

Der Hintergrund des Films mag die schwere Wirtschaftskrise in Argentinien zwischen 1998 und 2002 sein. Politische Streitereien innerhalb der Koalition Präsident la Rúas und dessen Unfähigkeit, die Lage des Landes zu verbessern, führten Ende 2001 zu schweren Unruhen und Plünderungen und schließlich zum Rücktritt la Rúas.

Doch was Martel darüber hinaus und unabhängig von diesen politischen und ökonomischen Krisen schildert, ist ein Phänomen, was (nicht nur in Argentinien) weit verbreitet ist: die Herrschaft des Unpolitischen, gerade innerhalb einer Mittelklasse, die unfähig zu sein scheint, als Schicht ein sichtbares Profil zu erlangen, was sich innerhalb der gezeigten Familie darin zeigt, dass einerseits die Beziehungen längst ihre Basis verloren haben, andererseits sich das Leben nicht nach diskutierbaren und diskutierwürdigen Regeln vollzieht, sondern sich in geradezu mechanisch ablaufenden Bahnen bewegt. Der Alkoholismus Mechas ist der ordinäre, aber eben hilflose und perspektivlose Protest gegen das Verlorensein dieses Daseins. Die allumfassende Lethargie Gregorios, die sich in permanentem Egoismus manifestiert, ist eine andere Form dieses Verlassenseins von sich selbst und anderen. Und der blinde Aktionismus Talis deutet von einer dritten Art und Weise, sich dem faden Leben entgegen zu stemmen: vergeblich. Denn der einzig „brauchbare” Ausdruck dieses Aktionismus ist ihr auf Mechas Vorschlag zurückgehendes Vorhaben, in Bolivien Schulmaterial für die Kinder zu besorgen (der Versuch einer Art kurzfristigen Flucht vor sich selbst und den anderen, beschämend eigentlich) – was ihr Mann Rafael (Daniel Valenzuela) dann auch noch (wegen der Risiken der Fahrt) verhindert, indem er heimlich für die Kinder schon Schulsachen besorgt.

Dazwischen stehen die junge Momi und Isabel – hilflos in dieser lethargischen, unpolitischen Atmosphäre ihren Bedürfnissen nachzugehen. Isabel geht. Momi schaut ihr trauernd nach.

Mit „unpolitisch” meine ich nicht allein und zuallererst einen Zustand, in dem sich niemand für die Ereignisse im Land interessiert. Polis ist die Gemeinde, das Öffentliche, das sich mit dem Privaten zu einer Einheit verbindet, also auch innerhalb einer Familie zum Tragen kommen müsste. In der Privatisierung des Familiären als etwas vom öffentlichen Leben getrennten ist die Möglichkeit bereits angelegt, das Gemeinschaftliche, und das heißt auch: das Emotionale und enorm Wichtige des Lebens in Gemeinschaft zu eliminieren. Damit aus dieser Möglichkeit eine Notwendigkeit werden kann, ein innerer wie äußerer Zwang, ist aber erforderlich, das sich Individuen auf sich selbst zurückziehen – sei es aus Unfähigkeit, sich dem Öffentlichen „zu stellen”, sei es aus Situationen, wie sie sich vielleicht in jenen Jahren in Argentinien entwickelt haben. Der vermeintliche „Rückzug ins Private” erweist sich – das zeigt der Film eigentlich mehr als deutlich – als ein gnadenloser Rückzug in individuelle Abkapselung, die nur dann aufgebrochen wird, wenn es ans eigene Innere geht. So offenbart sich der Morast, in dem man versinken kann.

© Bilder: Transeuropa Video Entertainment.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.