§ 175
(Paragraph 175)
USA, Großbritannien, Deutschland 1999, 76 Minuten
Regie: Robert Epstein, Jeffrey Friedman

Drehbuch: Sharon Wood
Musik: Tibor Szemzö, Gustav Mahler, Jean Sibelius
Director of Photography: Bernd Meiners
Montage: Dawn Logsdon
Produktionsdesign:

Mitwirkende: Gad Beck, Albrecht Becker, Heinz Dörmer, Annette Eick, Heinz F., Karl Gorath, Magnus Hirschfeld, Pierre Seel (alles Betroffene), Dr. Klaus Müller (Historiker, Projektleiter Europa des U.S. Holocaust Museum)

Anders

Bis heute wurde kein Homosexueller für die Verfolgung und Internierung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern rehabilitiert oder gar entschädigt. Ca. 100.000 schwule Männer wurden zwischen 1933 und 1945 verfolgt, eingesperrt, mindestens 15.000 in KZs gepfercht. Von letzteren überlebte kaum jemand. Erst in den letzten Jahren wurden Gedenksteine enthüllt, gab es Ausstellungen und wurde in ca. 50 Publikationen das Schicksal der Homosexuellen behandelt. Die schwulen Männer selbst kamen bis heute kaum zu Wort, auch weil sie selbst lieber schweigen wollten.

Robert Epstein und Jeffrey Friedman (»The Celluloid Closet«, dt. »Gefangen in der Traumfabrik«, 1995, über Homosexuelle und Homosexualität im Film Hollywoods) fanden einige der wenigen überlebenden und noch lebenden Opfer der Nazi-Tyrannei, zusammen mit dem Historiker Klaus Müller, und befragten sie sowie die der Tyrannei nach England entkommene Annette Eick, Lesbierin und Jüdin.

Epstein und Friedman verzichten in ihrer Dokumentation weitgehend auf Bilder aus den Vernichtungslagern sowie auf tragische Musikuntermalung. Sie zeigen die fünf Männer. Und das ist gut so. Denn aus dem, was sie sagen, was in ihren Augen zu sehen ist, erreicht das Grauen eine Nähe, die ausgehalten, ertragen werden muss.

Der zu Beginn der Interviews 93jährige Heinz F. kehrte 1945 aus dem Lager nach Hause zurück – nach 8 1/4 Jahren in Dachau und Buchenwald. Er redete mit niemandem über den Horror, den er erdulden musste. Seine Mutter fragte nicht. Und wenn er anderen gegenüber nur eine Andeutung machte, bekam er meistens zu hören: Ach, der alte Kram, davon wolle man nichts mehr hören. Auf die Frage, ob er denn überhaupt mit jemandem darüber habe sprechen wollen, sagt er: Ja, mit seinem Vater, aber der war schon tot. Becker weint, in seinen Augen ist für wenige Sekunden zu sehen und zu spüren, was ihm widerfahren ist, für uns nur eine flüchtige, aus unendlicher, dunkler Ferne herüber scheinende Bedrohung, und doch so nahegehend. Dann gewinnt er seine Würde wieder. Sein Gesicht ist wieder gefasst.

Der im Elsass geborene Pierre Seel wurde mit 17 Jahren eingekerkert. Seel kämpft bis heute um Wiedergutmachung – oder wie soll man es nennen? Er ist zornig, wütend, wollte nie wieder mit einem Deutschen reden oder deutsch reden. Im KZ wurde er vergewaltigt, man stieß ihm Holzpfähle in das Gesäß.

Gad Beck, der sich dem jüdischen Widerstand angeschlossen hatte und später am Aufbau Israels mitwirkte, erzählt von seinem Freund, der von der Gestapo zusammen mit seiner Familie verhaftet wurde. Mit einer HJ-Uniform konnte er ihn aus den Fängen der Gestapo herausholen. Doch vor dem Gebäude blieb sein Freund stehen, sagte, er könne seine Familie nicht allein lassen, sonst könne er sich nie wieder als freier Mensch fühlen – und ging zurück. Gad Beck hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Albrecht Becker entschloss sich nach mehreren Verhaftungen, als Soldat in die Wehrmacht zu gehen, um der Verfolgung zu entgehen.

Und dann ist da noch Heinz Dörmer, körperlich sehr angeschlagen, den man manchmal kaum versteht, der aber noch immer hellwach ist. Er hatte vor 1933 eine schwule Jungengruppe gebildet, die von den Nazis aufgelöst wurde. Er saß im KZ Schirmeck und berichtet mit leiser Stimme vom »singenden Wald«, in dem die KZ-Schergen ihre Opfer malträtierten und ermordeten. »Der singende Wald, da bekam jeder Gänsehaut. Der singende Wald, unerklärlich, da versagt das menschliche Hirn, und vieles bleibt noch unbekannt.« Dörmer wurde auch nach 1945 immer wieder verhaftet, saß insgesamt acht Jahre im Gefängnis. Denn der § 175 StGB, seit 1871 Bestandteil des Strafgesetzbuches, und die von den Nationalsozialisten 1935 verschärfte Fassung galten in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969. Auch Dörmer kämpfte eine Zeitlang vergeblich um Wiedergutmachung.

Zwischendurch erzählt auch die Lesbierin Annette Eick. Lesbierinnen wurden nicht verfolgt; man duldete sie. Aber Annette Eick war Jüdin. Nur durch Zufall gelang ihr – als einziges Familienmitglied – nach London zu flüchten.

Die Zeitzeugen aber berichten nicht nur vom Schrecken. Sie erzählen über das Berlin der 20er Jahre, das einige von ihnen als Paradies für Homosexuelle bezeichnen. Eine offene, ja weltoffene Stadt, in der Lokale, Varietés u.a. für Lesben und Schwule überall zu finden waren. Nicht nur Nazis, Sozialisten, Kommunisten, auch Schwule tummelten sich zudem in Pfadfindergruppen, FKK-Zusammenschlüssen usw.

Epstein, Friedman und Müller, der die fünf Schwulen und Frau Eick interviewt, gelingt durch eine nüchterne Darstellung und Selbstdarstellung der überlebenden Opfer, die fast alle das erste Mal über ihr Schicksal berichten, eine Dokumentation, die uns eine Weile spüren, ahnen lässt, die beängstigt, und die doch zugleich eine Art Rehabilitation von Menschen ist, die in ihrem Leben mehr Mut aufbringen mussten als die meisten anderen, erst recht wir heute. Die, denen nach 1933 das rosa Dreieck an die Brust geheftet wurde, sind bis heute nicht als Verfolgte des Naziregimes anerkannt.

Durch den Verzicht auf jegliche Inszenierung, dramatische Musik oder KZ-Bilder, gerät »§ 175« auch zu einer bemerkenswerten historischen, wahrscheinlich einmaligen Dokumentation, in der sich fünf von sieben bekannten überlebenden schwulen Männern das erste Mal und wahrscheinlich auch das letzte Mal zu ihrem Schicksal äußern.