Pretty Baby
(Pretty Baby)
USA 1978, 109 Minuten
Regie: Louis Malle

Drehbuch: Polly Platt, Louis Malle
Musik: Gerald Wexler, Scott Joplin
Director of Photography: Sven Nykvist
Montage: Suzanne Fenn
Produktionsdesign: Trevor Williams

Darsteller: Brooke Shields (Violet), Keith Carradine (E. J. Bellocq), Susan Sarandon (Hattie), Frances Faye (Nell), Antonio Fargas (Professor), Matthew Anton (Red Top), Diana Scarwid (Frieda), Don Hood (Alfred Fuller), Susan Manskey (Fanny)

Schwierige Wege

Irgend jemand entdeckte die Fotografien eines bis dahin unbekannten Mannes namens E. J Bellocq. Der hatte im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Rotlichtdistrikt von New Orleans, Storyville, fotografiert (1). Die Forschungen von Al Rose über diesen Distrikt waren die zweite Quelle, die den französischen Regisseur Louis Malle dazu anregten, 1978 einen damals heftig umstrittenen Film zu drehen. Er erzählt die Geschichte der 12jährigen Violet (gespielt von der damals fast gleichaltrigen Brooke Shields), eines Mädchens, das gegen Ende des ersten Weltkrieges in einem der Bordelle in Storyville aufgewachsen war.

Die wunderbare, dezente und doch en detail gehende Kamera Sven Nykvists (der für Ingmar Bergman gearbeitet hatte) führt uns in die Räumlichkeiten des „gehobenen” Bordells von Nell (Frances Faye). Nell, bestimmt 70 Jahre alt, trinkt Absinth und nimmt Kokain. Sie trägt eine Perücke, ist über die Maßen angemalt, wenn sie nicht gerade im Bett liegt, und hat ab und zu auch noch einen Freier. Der Blick fällt auf die 12jährige Violet. Sie ist hier aufgewachsen wie ihre Mutter Hattie (Susan Sarandon), die gerade nach einer äußerst schmerzhaften Geburt einen Sohn zur Welt bringt – Vater unbekannt –, und deren Mutter, die auch als Prostituierte gearbeitet hatte.

Violet kennt keine andere Umgebung als das Freudenhaus. Und Violet ist ein äußerst intelligentes Mädchen mit einer genauen Beobachtungsgabe. Sie kennt alles und alle in diesem Haus, alle Schliche, alle Tricks und alle Verhaltensweisen der Huren gegenüber ihren Freiern. Nur ab und an hat sie Spielkameraden, den rothaarigen Red Top (Matthew Anton) oder Nonny (Von Eric Thomas). Die meiste Zeit allerdings treibt sich Violet in den Räumen des zweistöckigen Bordells herum.

Eines Tages erscheint der Fotograf E. J. Bellocq (Keith Carradine) im Bordell. Er will die Prostituierten fotografieren, Eindrücke sammeln. Nell erlaubt ihm dies, und Bellocq hält sich stundenlang im Bordell auf – allerdings nie, um sich der Dienste einer der Huren zu bedienen. Am liebsten fotografiert er Hattie. Zwischen ihr und Violet kommt es des öfteren zum Streit. Hattie träumt, wie die meisten Prostituierten, davon, eines Tages ein besseres Leben zu führen, einen reichen Mann zu heiraten usw. Violet ist von Bellocq fasziniert, weil er anders zu sein scheint als die Freier, die das Bordell bevölkern.

Und dann ist es soweit: Violet wird den Freiern vorgestellt. Wer am meisten bietet, soll ihr erster Kunde werden. 400 Dollar bietet ein Mann mittleren Alters – und so wird Violet entjungfert.

Kurze Zeit später lernt Hattie einen Mann kennen, der sie heiraten und nach St. Louis mitnehmen will – ein reicher Mann, der auch den kleinen Sohn Hatties akzeptiert. Allerdings erzählt Hattie diesem Mr. Fuller (Don Hood), Violet sei ihre Schwester; erst später, wenn sich beide eingewöhnt hätten, würde sie Fuller die Wahrheit erzählen und Violet nachholen. Violet bleibt im Bordell – und arbeitet weiter als Prostituierte.

Als sie eines Tages verprügelt wird, weil sie den schwarzen Jungen Nonny mehr aus Spaß verführen will – die Missachtung der Rassentrennung ist auch im Bordell ein Sakrileg –, flüchtet sie in das Haus Bellocqs, um dessen Geliebte zu werden. Bellocq aber schwankt zwischen seiner potentiellen Rolle als Ersatzvater und seiner Faszination für Violet als (viele zu junge) Frau ...

Die Proteste gegen den Film, der in Cannes ausgezeichnet wurde, sind nur vor dem Hintergrund einer (nicht einmal mit Prüderie erklärbaren) falschen Moral und Doppelmoral sowie christlich-fundamentalistischer Überzeugungen zu verstehen. Denn der Film selbst ist in keiner Weise voyeuristisch, das heißt er bedient nicht im mindesten voyeuristische Erwartungen. Im Gegenteil: Malles Geschichte und die Kamera Nykvists sind in dieser Hinsicht zurückhaltend, ja man kann sagen äußerst respektvoll und distanziert. Im Mittelpunkt steht Violet, ein Kind, das nichts anderes kennt als das Bordell, das dort geboren und aufgewachsen ist. Und Malle verfolgt, wie ein junges Mädchen sich unter diesen Umständen entwickelt.

Jenseits jeglicher moralischer Urteile und Verurteilungen geht es Malle nicht um die ethische Wertung des Verhaltens der Beteiligten. Er will – und das Spiel der jungen Brooke Shields lässt dies mehr als deutlich werden – bebildern und erzählen, was in einem Mädchen wie Violet vorgeht. Das Ergebnis ist logisch und erschreckend zugleich. Für Violet kann es (zunächst jedenfalls) keine andere Perspektive geben als die, die ihre Mutter und Großmutter auch hatten: Arbeiten als Prostituierte. Weder die Freier – vom einfachen Handwerker und Farmer bis zum Senator oder Marineoffizier –, noch die Prostituierten, noch der u.a. Scott Joplins Ragtime spielende „Professor” (Antonio Fargas), noch die Puffmutter Nell, noch die schwarzen Hausangestellten, noch Hattie, noch Bellocq werden in Malles Film irgendeiner Beurteilung unterworfen.

Für alle Beteiligten sind Atmosphäre, soziales Verhalten, Bordellriten usw. Normalität. Man mag innerlich dagegen aufbegehren, protestieren oder sonst Abneigung gegen den „Missbrauch” von Violet empfinden. Den Blick richtet Malle nicht darauf, sondern ganz auf Violet selbst.

In der Beziehung zwischen Violet und Bellocq, einem ruhigen, aber auch entschlossenen, einsamen Mann, über dessen Motive, im Bordell zu fotografieren nichts bekannt ist, vertieft sich der Blick auf Violet. Er ist fasziniert von ihr, und zugleich ist ihm bewusst, dass die Normalität des Bordells für ein 12jähriges Mädchen keine Gültigkeit besitzen dürfte. Seine eigene Faszination ist zwiespältig. Einerseits sieht er in Violet ein Kind in der Pubertät, andererseits fasziniert ihn Violet als angehende Frau. Diese Zwiespältigkeit spiegelt sich in Violet selbst. Sie spielt mit gleichaltrigen Kindern, auch mit der Puppe, die Bellocq ihr geschenkt hat, doch zugleich begreift sie sich, ja empfindet sie sich als Frau neben den anderen Frauen im Bordell. Sie will Bellocq heiraten, seine Geliebte sein, seine Frau. Sie ist „zu erwachsen” für ihr Alter – könnte man auch sagen. Dieser innere Zwiespalt aber führt nicht dazu, dass Violet etwa in psychische Abgründe gerät oder gar in Depressionen verfällt. Sie „geht” mit ihrem Leben so um, wie es ist.

Ihre Sozialisation mag uns „nicht passen”, uns widerstreben. Aber all das nützt nichts.

Das Erschreckende der Geschichte ist nicht so sehr irgendeine Form von Missbrauch. Man kann das Aufwachsen von Violet natürlich so werten; nur würde diese Bewertung eben zu kurz greifen. Storyville ist Teil einer Gesellschaft, in der Prostitution zur Normalität gehört. Dass Sexualität zur Ware geworden ist, ist nichts Neues in der Moderne. Sie ist Teil der Moderne – ob uns das passt oder nicht. Die Verhältnisse im Bordell spiegeln „nur” die Verhältnisse der Gesellschaft, in der alles käuflich geworden ist. Dass ein12jähriges Kind in diese Käuflichkeit mit einbezogen wird, mag uns erschaudern lassen. Doch es liegt gewissermaßen in der Logik einer Gesellschaft, in der alles nur in Geld gewogen wird. Violet empfindet dies als normal. Und wie soll sie es auch anders empfinden? Ihre Sozialisation bedingt diese Normalität.

Und doch ist Malle nicht so naiv, das Publikum mit diesem Schrecken zu entlassen. Bei allem Verständnis für sämtliche Beteiligte der Geschichte zeigen doch die Szenen im Haus Bellocqs und die Schlussszene, wie langsam aber sicher sozusagen die Natur gegen die Kultur rebelliert. Das Spiel mit der Puppe bei Bellocq wie auch die Schlussszene auf dem Bahnhof, als Hattie und ihr Mann Violet mit nach Hause nehmen wollen, zeigt uns in Violets Gesicht die dramatische Spannung eines so jungen Lebens, in der eine „normale” Kindheit schon weitgehend verloren zu sein scheint. Es ist diese Rebellion des Natürlichen, des Anthropologischen gegen eine Kultur des allseits Käuflichen, die eine Rückkehr, oder besser: eine Umkehr möglich erscheinen lässt. Für Violet beginnt zugleich mit diesem Schluss des Films eine neue Form der Sozialisation sowie eine Reflexion ihrer bisherigen Sozialisation. Zumindest besteht hier für sie eine große Chance. Denn sie hat – trotz oder gerade wegen des Lebensraums Bordell und Storyville – in sich eine Kraft geradezu getankt, die für ihr weiteres Leben sehr bedeutsam sein wird.

Verlierer dieser Geschichte ist in gewisser Weise Bellocq, der eine Tochter wie eine Frau verloren hat – das heißt etwas auf Dauer Unmögliches.

Man sieht auch, wie wenig moralische Kategorien hier helfen, um eine solche Geschichte zu beurteilen. Ein feines Gefühl für die Hauptfigur des Films ist jedenfalls in jeder Hinsicht hilfreicher.

(1) Vgl. z.B. J. Bellocq: New Orleans Photographs, Verlag: Jonathan Cape, 1996; Nell Kimball, Stephen Longstreet, E. J. Bellocq: Memoiren aus dem Bordell, Frankfurt am Main 1999.

© Bilder: Paramount Pictures.
Screenshots einer TV-Aufnahme.