Rain Man
(Rain Man)
USA 1988, 133 Minuten
Regie: Barry Levinson

Drehbuch: Barry Morrow, Ronald Bass
Musik: Hans Zimmer, Doc Pomus („Lonely Avenue“)
Director of Photography: John Seale
Montage: Stu Linder
Produktionsdesign: Ida Random

Darsteller: Dustin Hoffman (Raymond Babbitt), Tom Cruise (Charles Sanford Babbitt), Valeria Golino (Susanna), Gerald R. Molen (Dr. Bruner), Jack Murdock (John Mooney), Michael D. Roberts (Vern), Ralph Seymour (Lenny), Lucinda Jenney (Iris), Bonnie Hunt (Sally Dibbs), Kim Robillard (Arzt)

Entgrenzungen

Charlie Babbitt (Tom Cruise) ist das, was man getrost ein egoistisches Arschloch nennen könnte. Seine Umgebung hat ihm zu dienen. Er ist mit dem Verkauf teurer Karossen beschäftigt – ungewolltes Motto: macht viel Wind, hat wenig Erfolg – und benutzt andere, einschließlich seiner Freundin Susanna (Valeria Golino), die ihn längst durchschaut hat, für sein Fortkommen. Charlie scheint keine Gefühle zu kennen, außer bei sich selbst. Als sein Vater, zu dem er jahrelang keinen Kontakt hatte, eines Tages stirbt, erfährt er, dass er einen älteren Bruder namens Ray (Dustin Hoffman) hat, der drei Millionen Dollar erben soll, während Charlie lediglich des Vaters Rosen sowie einen 49er Buick abbekommt. So ein Pech. Aber Charlie wittert eine Chance. Denn Ray lebt in einem Heim für psychisch Kranke und leidet an Autismus – wenn es für ihn denn ein Leiden ist. Er steht unter der Obhut von Dr. Bruner (Gerald R. Molen), einem alten Freund des Vaters, der das Vermögen Rays nun treuhänderisch verwalten soll und der Charlie nie über Ray informieren wollte. Charlie spekuliert: Wenn er Ray mitnimmt und Bruner unter Druck setzt, notfalls auch klagt, hätte er Chancen auf die Hälfte des Sümmchens; sofern er die Vormundschaft über seinen Bruder bekommen würde, vielleicht auf das ganz Geld.

Hoffman und Cruise realisierten mit diesem Film einen alten gemeinsamen Wunsch. Barry Levinson („Good Morning, Vietnam”, 1987; „Sleepers”, 1996; „Wag the Dog”, 1997; „Banditen!”, 2001) nahm sich ihrer an. Was dabei herausgekommen ist? Immerhin vier Oscars, ein Dustin Hoffman, der in ungewohnt „leidenschaftloser” Art und Weise einen Autisten glänzend spielt – soweit ich das beurteilen kann – und ein Tom Cruise als „leidenschaftlicher” Gegenpart in einem als besondere Art von Road-Movie angelegten Film. Beide wecken mit ihrem Spiel über weite Strecken die Neugier auf das „Hin und Her” der so unterschiedlichen Charaktere. Die restliche Crew besteht im wesentlichen aus supporting actors, bis auf Valeria Golino, die als Charlies Freundin versucht, aus dem einen erwachsenen Menschen zu machen, der sein Leben nicht darauf beschränkt, andere auszunutzen.

Im Zentrum des Films stehen Cruise und Hoffman. Levinson zeigt die allmähliche Annäherung zwischen Ray und Charlie. Während Charlie zunächst an nichts anders denkt als an Geld, lernt er seinen Bruder im Laufe der Zeit kennen, wie er ist und wie er bleiben wird, weil Ray sich gar nicht verändern kann. Dieser in vielerlei Hinsicht typischen Hollywood-Manierismen folgende Wandel vom Saulus zum Paulus, vom egozentrischen Geldgierigen zum liebenden und sorgenden Bruder hat selbstverständlich fast all das in sich, was Märchen eben so in sich haben. Was des einen „Tellerwäscher wird Millionär”, ist (hier) des anderen „Egoist wird Mensch”. Bemerkenswert ist allerdings, dass Levinson auf rührseligen Kitsch und Klischees verzichtete und trotzdem sein Publikum erreichte.

Man erfährt zudem erstaunlich viel über Ray und Charles Babbitt. Ray ist einerseits in der Lage, Telefonbücher auswendig zu lernen, die Zahl von auf den Boden gefallenen Streichhölzern in Nullkommanix, nein, nicht zu schätzen, sondern genau zu ermitteln, Dialoge von Fernsehsendungen auswendig vorzusagen, 1.045 und 346 in Windeseile zu multiplizieren und die restlichen, verdeckten Karten bei einem Kartenspiel ebenso schnell zu ermitteln. Andererseits ist er völlig unfähig, die für andere Menschen normalen Alltagssituationen auch nur annähernd zu bewältigen. Er kennt keine Preisunterschiede, bleibt mitten auf der Straße stehen, als er an der Ampel liest „Don’t walk” und ist von einem festen Tagesrhythmus abhängig. Ray kann kommunizieren, er versteht, was jemand zu ihm sagt, begreifen tut er aber nur das wenigste.

Charlie behandelt seinen Bruder zunächst wie jeden x-beliebigen Menschen, gerät in Aufregung und Verzweiflung, weil Ray vieles nicht begreift bzw. scheinbar stur an bestimmten Dingen festhalten will und benutzt ihn auf der Fahrt nach Los Angeles in Las Vegas, um beim Kartenspiel immerhin mehr als 80.000 Dollar zu gewinnen. Im Laufe des Trips per Buick aber – Ray hatte sich geweigert, ein Flugzeug zu besteigen und zitierte auswendig die Flugzeugunglücke der vergangenen Jahre – kommt Charlie seinem Bruder immer näher und merkt plötzlich, dass er Ray gern hat.

„Rain Man” – das ist ein Film über Grenzen und Begrenzungen, aber auch über Grenzüberschreitungen. Charlie ist gefangen in seiner Selbstbezogenheit, Ray ist gefangen in seinem Autismus. Der eine hat die Chance, sich zu ändern, der andere mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Der eine lernt dazu und entwickelt Gefühle für andere, paradoxerweise gerade weil der andere sich nicht einen Millimeter fortentwickeln kann. Während sich Charlie bislang anderer bemächtigte, um zweifelhafte Pluspunkte für sein Leben zu sammeln, scheitert alles, was er in dieser Hinsicht bisher gelernt hat, an der Person seines Bruders. Der Autismus versagt sich einer Änderung, also muss sich Charlie ändern und begreifen, dass seine bisherige Arroganz und Machtausübung gegenüber anderen nie dazu führen wird, dass er sie vollständig unter Kontrolle bringen wird. Was seine Freundin Susanna mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen, gut gemeinten Vorhaltungen und Kritik nicht geschafft hat, das schafft Charlies Bruder, ohne dass er das wahrscheinlich weiß. Oder weiß er es doch? Jedenfalls weiß niemand genau, was in einem autistischen Menschen tatsächlich vorgeht, was er wirklich mitbekommt und was nicht, was er fühlt.

„Rain Man” – das ist Hollywood pur, aber Levinson drückt nicht auf die Tränendrüsen. Hoffman spielt Ray als einen, den man sehr schnell gern haben muss, obwohl es so schwer fällt, jemanden gern zu haben, mit dem man nur sehr begrenzt und in festen und unveränderlichen Bahnen kommunizieren kann. Ray bietet – etwa gegenüber Menschen, die an Krankheiten leiden, die sich kontinuierlich verschlimmern (z.B. Alzheimer) – eine ungewöhnliche Sicherheit: Zumindest kann man sich auf ihn verlassen, weil man ihn nach einer gewissen Zeit einschätzen kann. Für Charlie ist Ray tatsächlich eine solche Sicherheit, die ihn nach nur kurzer Zeit zu einem anderen Menschen macht.

Levinson bedient sich der typischen Elemente eines Road-Movies, dem Fahren mit dem Auto in den Sonnenuntergang, dem Kennenlernen verschiedener „typischer” Amerikaner, ob den Arzt oder die Farmersfrau mit sechs Kindern in einer Kleinstadt, die Männer und Geld suchende Iris (Lucinda Jenney) in einer Spielhölle in Las Vegas oder auch die „typische” Bedienung in irgendeinem Café unterwegs. Der Film machte mir trotzdem irgendwie Spaß. Die Chemie zwischen Cruise und Hoffman stimmte, ich nahm letzterem seine Rolle voll ab, Cruise auch, obwohl er es sicherlich leichter hatte.

Ein Märchen, aber ein schönes. Salute!


 

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