Va Savoir
(Va Savoir)
Frankreich, Italien, Deutschland 2001, 154 Minuten
Regie: Jacques Rivette

Drehbuch: Jacques Rivette, Pascal Bonitzer, Christine Laurent
Director of Photography: William Lubtchansky
Montage: Nicole Lubtchansky
Produktionsdesign: Emmanuel de Chauvigny

Darsteller: Jeanne Balibar (Camille B.), Marianne Basler (Sonia), Hélène de Fougerolles (Dominique „Do”), Catherine Rouvel (Madame Desprez), Sergio Castellitto (Ugo), Jacques Bonnaffé (Pierre), Bruno Todeschini (Arthur)

Unschärfen ...

Battle Chess? Love Chess? Vielleicht von beidem etwas. Jedenfalls setzt der französische Regisseur Jacques Rivette seine Figuren wie die eines Schachbretts. Doch während beim Schach nur feste und unumstößliche Regeln die Figuren bewegen können und es auf die Kombinationsgabe und Voraussicht der Spieler ankommt, wer letztendlich siegt, scheinen es in „Va Savoir” die Figuren zu handeln, wie sie wollen. Oder trügt dieser Schein eines bewussten Verhaltens der Akteure?

Die Bühne scheint frei. Pirandellos „Come tu mi vuoi” wird gespielt. Und das Stück handelt u.a. von der Wiederkehr einer scheinbar namenlosen Frau. Camille (Jeanne Balibar) spielt diese Wiederkehrende – und ist selbst eine. Eine, die auszog, das Theater zu entdecken. Doch in Wirklichkeit eine, die floh – vor zu viel Nähe, die sie als Gefangenschaft begriff. Nun ist sie zurück in Paris mit der Truppe von Ugo (Sergio Castellitto), Regisseur und Schauspieler – ein vorwiegend italienisches Ensemble, das in Frankreich Pirandello zum Besten gibt. Ugo und Camille sind ein Paar, ein schwieriges zwar, aber ein Paar. Man umkreist sich, vor allem umkreist Ugo Camille – denn sie scheint etwas zu verbergen, etwas, das beider Beziehung kontinuierlich beeinflusst, von dem Ugo aber nichts weiß, nur spürt.

Rivette „ordnet” diesen beiden Akteuren weitere Personen hinzu: Pierre (Jacques Bonnaffé), den Mann, vor dem Camille geflohen war, und dessen neue Lebensgefährtin Sonia (Marianne Basler). Hinzu kommen Madame Desprez (Catherine Rouvel), die Ugo aufsucht, weil sie eine wertvolle alte Bibliothek besitzt, in der Ugo hofft, ein Manuskript von Goldoni zu finden. Bei ihr lernt Ugo deren Tochter Dominique (Hélène de Fougerolles) kennen sowie deren Halbbruder Arthur (Bruno Todeschini), einen Gauner und Taugenichts, der sich an Sonia heranmacht, die einen wertvollen Ring besitzt, und gleichzeitig ein zweifelhaftes Verhältnis zu seiner Halbschwester pflegt.

Rivette stellt also Paare auf. Camille und Ugo, Pierre und Sonia, Arthur und Dominique – und wechselt im Laufe der Geschichte diese Personen aus, „kreiert” neue Paare, mehrfach. Diese dem Schachspiel nur äußerliche Konstellation ergänzt sich durch eine weitere Dualität – die von Leben und Bühne. Die unprätentiöse und ungezwungene Dramatik von Theater und Wirklichkeit bekommt dabei eine eigene Qualität. Die Ebenen verschwimmen – und es ist Camille, die durch eine Art unverarbeitete Vergangenheit das Spiel in Gang setzt. Sie spielt schlecht auf der Bühne, und der Grund ist die Nähe zu Pierre, über den sie ständig nachdenken muss, den sie aufsucht, während Pierre im Laufe der Zeit immer deutlicher den Wunsch hegt, wieder mit Camille zusammenzuleben. Zugleich entsteht eine Beziehung zwischen Ugo und Dominique bei der gemeinsamen Suche nach dem vermuteten Manuskript von Goldoni. Dominique scheint sich in Ugo verliebt zu haben, während Ugo zugleich Angst hat, Camille könne sich durch Pierre beeinflussen lassen.

Doch eine weitere Beziehung entsteht – die zwischen Camille und Sonia, die sich allmählich näher kommen und sympathisch finden.

Als Sonia Camille davon erzählt, dass Arthur ihr heimlich den wertvollen Ring entwendet hat, werden beide zu Komplizinnen, während Ugo Pierre im Theater zum Duell fordert – mit hartem Alkohol ...

Absurdes Theater. Rivette scheint eine „normale” Geschichte mit zahlreichen Verwicklungen inszeniert zu haben. Doch hinter dieser Normalität verbergen sich unerfüllte Sehnsüchte, ungeklärte Beziehungen und Wünsche, deren realer Gehalt weniger deutlich erscheint, wenn man dem Film intensiv folgt. Die Aufstellung und Um-Positionierung der Figuren folgt keiner wirklichen Regel – außer vielleicht der der Unbestimmtheit des Verlangens der Akteure. Während beim Schach feste Regeln und die Schläue der Spielen vorherrschen, scheinen hier keine Regeln zu existieren und die Personen nur mehr schlecht als recht ihren unerfüllten Wünschen zu folgen.

Was wollen sie wirklich? Am deutlichsten scheint dies noch bei Arthur, wenn er den wertvollen Ring in seinen Besitz bringen will. Doch bei näherer Betrachtung ist auch dies nur vordergründig. Während das Pirandello-Stück noch einem Skript folgt, folgen die Akteure bei Rivette – ja, seinem Skript, aber eben einer Unbestimmtheit, manchmal gar einer Belanglosigkeit und Unkenntlichkeit ihrer Wünsche, die kaum aufklärbar scheint.

Was will Camille? Zurück zu Pierre? Eher nicht, aber irgend etwas zieht sie zu ihm – vielleicht die Frage danach, was in beider Beziehung eigentlich geschehen ist. Als Pierre sie einsperrt, flieht sie über das Dach. Was will Ugo? Er hat Angst, Camille zu verlieren, doch gleichzeitig gibt er (fast) den Reizen von Dominique nach. Was will Pierre? Camille zurück? Was will Sonia? Pierre behalten? Warum gibt sie Arthur nach, unwissend, dass der nur ihren Ring will? Offensichtlich wird Rivette nur in der Beziehung der beiden Frauen, Camille und Sonia, als diese sich verabreden, sich an Arthur zu rächen. Camille verbringt eine Nacht mit Arthur, um ihm den Ring wieder abzunehmen. Erfolgreich.

Aber auch diese Eindeutigkeit in der, man kann sagen: beginnenden Freundschaft der beiden Frauen, einer fast schon „natürlich” wirkenden Sympathie und Nähe, wirkt andererseits wie eine Farce – so wie das ganze Stück Rivettes. Es ist nicht irgendeine Form von Psychologie, die Rivette hier ausspielt oder auskostet. Es geht nicht um so etwas wie Familienaufstellung.

Absurdes Theater. Während das Stück, das Ugo und die anderen aufführen, einem nachvollziehbaren Skript folgt, einer festgelegten Logik nacheifert, scheinen Rivettes Figuren jedes Gefühl für Logik und jedes Gefühl für Gefühl verloren zu haben. Die Unbestimmtheit ihres Verhaltens, die Ziellosigkeit ihres Handelns gleicht einem permanenten Schwebezustand, in dem nichts eindeutig und fassbar scheint. Die Unschärferelation ihrer Beziehungen scheint uns zu verstehen zu geben: Wir können sie entweder in ihrer Person oder in ihren Beziehungen erkennen – aber nicht in beidem zugleich.

Man könnte auch sagen: Diese Unbestimmbarkeit korreliert mit einem Stadium menschlicher Entwicklung, in dem nach dem Abschütteln fest umrissener Konventionen und festgefahrener Regeln Regellosigkeit zur einzigen Regel geworden zu sein scheint. Die Gefühle der Akteure können wir nur bis zu einem geringen Grad nachvollziehen – alles andere bleibt verborgen, wahrscheinlich auch den Handelnden selbst. Gefühl und Verstand scheinen keine wirkliche Bestimmung mehr zu haben, sondern nur noch Form zu sein, eine Form – nicht eine Regel ! –, in der sich die Akteure bewegen. Selbst das alkoholische Duell und der rückgängig gemachte Diebstahl des Rings haben keine wirkliche Bedeutung. Sie sind nur Form, so, als ob eine schwache Erinnerung an vergangene Zeiten die Beteiligten steuern würde. Und auch die Freundschaft der beiden Frauen ist eher die nebulöse Erinnerung an das, was Freundschaft beinhaltet, als wirklicher Inhalt.

Am Schluss scheint alles: Schach matt. Zwei Männer sind betrunken, zwei Frauen bedeutet der wiedergewonnene Ring schon nichts mehr, und der Dieb sitzt mit all den anderen an einem Tisch, so, als ob Schauspieler hinter der Bühne noch ein bisschen das Stück weiterspielen, nachdem der Vorhang gefallen ist.

© Bilder: Kinowelt.
Screenshots von einer Fernsehaufnahme.