Aber das Leben geht weiter
Deutschland 2011, 104 Minuten
Regie:  Karin Kaper und Dirk Szuszies

Musik:  Patrick Grant
Director of Photography:  Dirk Szuszies
Montage:  Karin Kaper und Dirk Szuszies

Vertriebene treffen Vertriebene

Kann man Leid relativieren?

Ja!

Wer glaubt, der Krieg sei zu Ende, verschließt die Augen vor einer unsäglichen Vergangenheit, die uns noch immer bestimmt, beeinflusst, bewusst oder unbewusst – ob wir es wollen oder nicht. Weit über fünfzig Jahre lang, im Grunde bis heute, wurde Leid relativiert. Diejenigen, die litten und noch heute unter dem Erlebten leiden, wurden auch nach dem zweiten Weltkrieg für die verschiedensten Interessen instrumentalisiert, die ihr Leid in einer Weise relativierten, das unsäglich ist.

Zwischen Faschismus, Stalinismus und nach dem Krieg auch Revisionismus wurden Millionen Leidtragende zum Spielball machtpolitischer Interessen, die das Leid der einen gegen das der anderen ausspielten. Während der Faschismus Europa mit organisiertem und systematischen Völkermord überzog und daneben zwangsweise große Bevölkerungsgruppen erst auf der Landkarte, dann ganz praktisch "verschob", heimste sich der Stalinismus nach dem Hitler-Stalin-Pakt Ostpolen ein und siedelte dort bis dahin lebende Menschen zwangsweise nach Sibirien und in andere Gebiete der Sowjetunion um.

Nach 1945 verkündeten die Machthaber der realsozialistischen Staaten, die deutschen Minderheiten in Osteuropa seien die "Fünfte Kolonne" Hitlers gewesen. Millionen wurden auch hier wieder pauschal als Täter verdächtigt, zumindest als willige Helfer eines Massenmörders. Auf der anderen Seite des "Eisernen Vorhangs" waren es maßgebliche Leute in den Vertriebenenverbänden und der CDU/CSU, die über Jahrzehnte hinweg die Rückgabe der verlorenen Ostgebiete (Schlesien, Pommern, Ostpreußen) respektive Entschädigung verlangten und damit den "Kalten Krieg" anheizten. Auch Leute aus diesen Verbänden geißelten später in den 70er Jahren die von ihnen sog. "Verzichtspolitik" der Brandt-Scheel-Regierung, das heißt die Politik des Ausgleichs, der Versöhnung und der Verständigung, die de facto u.a. zur Anerkennung der Westgrenze Polens führte. "Brandt an die Wand" war damals in den 70er Jahren an Häuserwänden zu lesen.

Kann man Leid relativieren?

Ja!

Denn diejenigen, die tatsächlich vertrieben wurden, seien es Deutsche oder Polen oder andere, wurden darüber im Grunde: vergessen! Die einen sind "die Vertriebenen", die anderen auch. Die Täter standen jahrzehntelang immer auf der jeweils anderen Seite.

Ich erinnere mich noch gut an Christine Brückners Romane "Jauche und Levkojen" (1975) und "Nirgendwo ist Poenichen" (1977). Beide Romane wurden 1977/78 verfilmt und schilderten das Schicksal der Familie Quindt, insbesondere Maximiliane von Quindts, der Tochter eines landadeligen Grundbesitzers in Hinterpommern, die gegen Ende des Krieges die Flucht in den Westen antrat. Romane wie Filme schilderten die Geschichte der Quindts in einer Art und Weise, die mich sehr beeindruckte: ohne Vorurteile, Vorwürfe, Aggressionen, Revisionismus. Für Linke waren derlei Filme Ausdruck des "Revanchismus". Über Vertreibung, Deportation, aber auch über die Verbrechen der Vergewaltigung, die an deutschen Frauen von russischen Soldaten begangen worden waren, wollte man nicht reden. Die Standardantwort, wenn überhaupt, lautete: Hitler habe Schuld an allem ...

Rechte wollten demgegenüber "Schluss machen" mit der ewigen "Schuld der Deutschen". Man erinnere sich etwa an die furchtbaren Thesen des Historikers Ernst Nolte in den 80er Jahren, für den der Faschismus nur eine "überschießende" Reaktion auf den Bolschewismus gewesen sei. Der "Klassenmord" (Gulag) sei dem "Rassenmord" (KZ) vorausgegangen. So, wie hier die Geschichte des Völkermordes und damit auch das Schicksal der Opfer relativiert wurden, schuf der "Kalte Krieg" insgesamt über Jahrezehnte eine Situation der "absoluten Relativität" aller Opfer dieses Krieges.

Kann man Leid relativieren?

Nein!

Und dazu trägt nun ein Dokumentarfilm bei, den Karin Kaper und Dirk Szuszies produziert haben. Karin Kapers Mutter Ilse Kaper gehört zu jenen Menschen, die aus den ehemaligen Ostgebieten nach 1945 vertrieben wurden. Ilse Kaper und ihre Schwester Hertha Christ wuchsen 25 km von Görlitz entfernt in Niederlinde (heute Platerówka) in Niederschlesien auf. Noch ein Jahr nach Kriegsende lebten sie dort auf ihrem Hof – gemeinsam mit Edwarda Zukowska, der der Hof nach 1945 als Entschädigung für die eigene Vertreibung aus Ostpolen zugewiesen worden war. Edwarda war mit ihrer Familie nach der Aufteilung Polens aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts zuerst nach Sibirien verschleppt worden, bevor sie dann nach einer unglaublichen Odyssee über Kirgisien nach Platerówka kam.

Der Film schildert die Begegnung all dieser Frauen in Niederlinde / Platerówka. Karin Kaper fährt mit ihrer Mutter und ihrer Tante in den Ort, wo sie Edwarda, inzwischen weit über 80 Jahre alt, deren Tochter Maria Wojewoda und deren Enkeltochter Gabriela Matniszewska treffen – auf dem Hof, auf dem Ilse und Hertha aufgewachsen waren.

Ilse, Edwarda und Hertha erzählen von ihrem Leben vor dem Krieg, den Geschehnissen bis 1945 und danach. Sie sitzen in der Wohnstube Edwardas, gehen spazieren, schauen sich an, was sich verändert hat, und dann erzählen sie auch von ihren ganz persönlichen Vertreibungsgeschichten, von den Ängsten, Befürchtungen, der ungewissen Zukunft, dem Vorgehen der Roten Armee, dem Verhalten der polnischen Behörden nach dem Krieg.

Das Erstaunliche an diesen Begegnungen der sechs Frauen ist die völlige Abwesenheit dessen, was die Nachkriegszeit an Vorwürfen, Anfeindungen, Schuldzuweisungen und so weiter hinterlassen hatte. Im Gegenteil: Das Verständnis zwischen den Frauen scheint unerschöpflich. Edwardas Enkeltochter Gabriela, die sehr gut Deutsch spricht, betont mehrfach, für wie wichtig sie solche Begegnungen für die Versöhnung hält. Andererseits ist auch richtig, dass solche Begegnungen sicherlich nicht immer möglich sind. Bis heute herrschen auf beiden Seiten Vorbehalte.

Der Film enthält keine Kommentare oder sonstige Wertungen. Kaper und Szuszies lassen die Frauen zu Wort kommen, blenden ein paar Mal kurze Texte zum historischen Verständnis ein und zeigen kurze Ausschnitte aus älterem persönlichen Filmmaterial.

Ilse Kaper, Hertha Christ und Edwarda Zukowska steht im Gesicht geschrieben, wie weit die Erinnerung an das Leid und das Leid selbst noch fortwirken. Alle drei Frauen aber sind im Grunde nicht nur miteinander versöhnt; sie haben sich, so wirkte es jedenfalls auf mich, auch mit der Geschichte versöhnt. "Aber das Leben geht weiter ..." bedeutet in diesem Sinn wohl auch, dass sie die Zeit nach dem Krieg gemeistert haben. Trotz ihres Leidens und ihrer furchtbaren Vertreibungserfahrungen spürt man so etwas wie den aufrechten Gang – abseits aller Fremdbestimmung durch Ideologien, Verbrechen, Deportation usw.

Kann man Leid teilen?

Vielleicht!

Vielleicht, so scheint mir, ist dieser dokumentierte Akt einer Versöhnung, die auch ihre Geschichte hat, nicht nur in einem ähnlichem Erfahrungshorizont begründet, sondern auch in der tief verwurzelten Bereitschaft von Menschen, denen es nicht um Rache geht, nie um Rache ging.

 

"Aber das Leben geht weiter ..." ist eine gelungene Dokumentation über ein noch längst nicht abgeschlossenes Kapitel europäischer Geschichte. Sie kann mehr zum gegenseitigen Verständnis beitragen als so manche Ausstellung oder so manches Buch zum Thema. Dessen bin ich sicher.

Weitere Informationen:
http://www.karinkaper.com/

Wertung: 10 von 10 Punkten

(11.12.2011)