Whity
Deutschland 1971, 95 Minuten (DVD: 92 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raben
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Thea Eymèsz, Rainer Werner Fassbinder
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Günther Kaufmann (Samuel „Whity“ King), Ron Randell (Benjamin Nicholson), Hanna Schygulla (Hanna), Katrin Schaake (Katherine Nicholson), Harry Baer (Davy Nicholson), Ulli Lommel (Frank Nicholson), Tomás Martin Blanco (falscher mexikanischer Arzt), Stefano Capriati (Richter), Elaine Baker (Marpessa, Whitys Mutter), Mark Salvage (Sheriff), Helga Ballhaus (Frau des Richters), Rainer Werner Fassinder (Gast im Saloon)

In die Wüste ...

Fassbinder dreht einen Western. Was vielen unglaublich, merkwürdig erschien, geschah 1971. In Spanien gedreht, dort wo viele Italo-Western entstanden, erzählt Fassbinder die Geschichte eines Halb-Sklaven namens Samuel King (Günther Kaufmann), der paradoxerweise den Spitznamen Whity trägt. Der Film, der bei Publikum und Kritik gleichermaßen durchfiel, mit dem anscheinend niemand etwas anfangen konnte, hat im Rückblick allerdings trotzdem seinen Platz im Gesamtwerk des Regisseurs.

„Whity” hat die äußere Form eines Westerns; er spielt vor den gängigen Kulissen, er zeigt die Akteure in den alt bekannten Kostümierungen, und Fassbinder zitiert kräftig seine Vorbilder. Doch im Gegensatz zum Genre-Western sind die Dialoge eher spärlich, die Musik – vor allem die Lieder, die Hanna Schygulla vorträgt – alles andere als Saloon-Songs im üblichen Sinn, und die Handlung ähnelt in vielem eher einer Tennessee-Williams-Südstaaten-Geschichte.

1878, Südstaaten. Whity ist der illegitime Sohn des Großgrundbesitzers Ben Nicholson (Ron Randell) und der schwarzen Köchin Marpessa (Elaine Baker) und arbeitet, wie seine Mutter, als Kutscher, Diener usw. im Hause seines Vaters. Der hat zwei Söhne aus erster Ehe: den schwachsinnigen Davy (Harry Baer) und den homosexuellen Frank (Ulli Lommel). Ben ist in zweiter Ehe mit der Nymphomanin Katherine (Katrin Schaake) verheiratet. Whity wird selbstverständlich nicht als Sohn, sondern als Haussklave behandelt und bekommt auch die Peitsche zu spüren. Einmal lässt er sich sogar für Davy auspeitschen. Whity will, dass es „der Herrschaft” in allen Lebenslagen gut geht. Er verbietet seiner Mutter, Lieder wie „Glory, glory halleluja” zu singen.

Sein einziger Trost: die Saloon-Sängerin und Prostituierte Hanna (Hanna Schygulla), mit der er heimlich ein Verhältnis hat. Er liebt sie und sie liebt ihn. Und sie will weg, doch Whity nicht. Er sagt, er sei zufrieden mit seinem Leben und wolle seine Familie nicht verlassen.

Was Whity nicht weiß: Zwischen den Familienmitgliedern herrschen Konflikte, die nicht offen ausgetragen werden. Jeder – außer Davy – integriert gegen jeden. Was Whity davon erfährt, artikuliert sich in Mordaufträgen: Frank möchte, dass Whity seinen Vater tötet; Katherine möchte, dass er Frank ermordet. Und Ben selbst schickt seiner Frau einen falschen mexikanischen Arzt, der sie verführen und ihr weismachen soll, Ben sei todkrank. Ben will Katherine „testen”. Als der Arzt seinen Auftrag erfolgreich abgeschlossen hat, erschießt ihn Ben. Hanna wird Zeugin dieses Mordes, verrät dem Sheriff aber nichts davon.

Dann klärt Hanna Whity über die anderen in der Familie und ihre Absichten auf, auch darüber, dass ihr Ben Geld gegeben hat für ihr Schweigen: Whity erschießt Ben, Katherine, Frank und Davy und flüchtet mit Hanna in die Wüste. Es ist klar, dass sie dort verdursten werden.

Man könnte „Whity” als eine Art experimentellen Film einordnen. Denn vieles von dem, was Fassbinder hier in einem fast minimalistischen, einem schwülen Südstaatendrama ähnlichen Film inszeniert hat, wird in etlichen seiner späteren Filme – auch in der sog. „BRD-Trilogie” – in anderer Weise wieder aufgegriffen.

Die zentralen Kategorien, um die die Geschichte kreist, sind Geld und Liebe und die Beherrschung aller Akteure durch diese beiden Momente. Whitys Familie ist beherrscht von Verrat und Intrigen. Katherine will Alleinerbin des Besitzes werden. Für Frank gilt dasselbe. Und Ben will seine lästige Frau, die er durch die Intrige mit dem falschen Arzt überführt hat, los werden. Für Whity ist diese Familie auch seine Familie – trotz der sklavenhalterischen Umstände, unter denen er dort leben muss. Man könnte auch sagen: Whity ist das schwarze Schaf dieser Familie – was besonders deutlich würde, wenn man den Film seiner „Südstaaten-Verkleidung” berauben würde.

Whity hält lange – auch gegenüber seiner Mutter – an der Familie fest, versucht den beiden Stiefbrüdern zu helfen, es dem Hausherrn und Katherine recht zu machen. Auch gegenüber dem sozialen Umfeld verhält sich Whity friedlich – obwohl man ihn dort als „Nigger” behandelt und etwa im Saloon verprügelt, nachdem Hanna ihn in aller Öffentlichkeit geküsst hat.

Es geht also um das Austarieren der Möglichkeiten eines Menschen, sich trotz aller Widrigkeiten in derartige Strukturen zu integrieren. Whity versucht dies bis an die Grenzen des Möglichen. Erst dann – als ihm Hanna die Augen öffnet – greift er erst zum Whisky, dann zum Revolver und tötet die Nicholsons. Davy, von Harry Baer mit bleichem, manchmal etwas grünlich schimmerndem Gesicht wortlos gespielt, folgt Whity von einem Mord zum anderen – bis er und Whity im Stall stehen. Whity richtet den Revolver auch auf ihn. Ein leichtes zustimmendes Nicken von Davy verkündet dessen Einwilligung, auch ihn zu töten. Davy, der Schwachsinnige, ist der einzige der vier, der verstanden hat, um was es hier geht.

Der Mord steht in dieser Hinsicht nicht für Mord, sondern für die Destruktion von Verhältnissen, die nicht integrieren können – für eine Art selbstzerstörerischen Prozess, aus dem nur einer als „Sieger” hervorgehen kann. Hätte Ben gesiegt, wäre Katherine verarmt auf der Straße gestanden. Hätte Frank gesiegt, wäre er einfach an die Stelle seines Vaters getreten. Hätte Katherine gesiegt – unter der Voraussetzung, Ben wäre wirklich sterbenskrank gewesen und Whity hätte nur Frank getötet –, wäre sie an die Stelle von Ben getreten. Nur Davy hätte nicht siegen können. Integration ist unter solchen Bedingungen unmöglich. Nur Unterwerfung.

Den Sieg davon trägt jedoch Whity – einer, der sich der Macht und dem Kreislauf des Geldes nicht unterworfen hat, sondern auf die Liebe setzt. Whity ist sich bewusst, dass er nie an die Stelle Bens treten könnte. Und der Mord an den vier Familienmitgliedern – selbst wenn dies in irgendeiner Weise möglich gewesen wäre – macht diesen Weg sowieso unbegehbar. Whity scheitert an seiner Familie. Der Weg mit der einzigen Person, die ihn liebt und die er liebt, in die Wüste, diese Flucht vor den Strukturen und ihren Mechanismen kann man daher auch als einen Weg in die Unmöglichkeit bezeichnen – die Unmöglichkeit, sich der Macht und dem Kreislauf des Geldes anders zu entziehen als durch Flucht in das Nichts – eine Nische, die nur für kurze Zeit ihm und Hanna ein Leben außerhalb von Strukturen erlaubt, in denen das Geld der große Hobel ist, der sich alles unterwirft.

Whity erscheint in dieser Perspektive fast als Gegenstück etwa zu Lola in dem gleichnamigen Film Fassbinders (1981), die sich die Männerwelt und ihre Mechanismen zu eigen macht, um in dieser Welt zu überleben, und andererseits als männliches Pendant zu Maria Braun in „Die Ehe der Maria Braun” (1979), die ähnlich wie Lola handelt, aber am Ende durch eine Explosion umkommt, so dass die individuellen Perspektiven eines Weges „mit den Verhältnissen” vor der historischen Kulisse des aufblühenden Kapitalismus der 50er Jahre schnell verblassen werden. Whity wie Maria Braun versuchen auf unterschiedliche Weise, sich in diesen Verhältnissen zu integrieren – allerdings mit dem Unterschied, dass Maria Braun sie für sich nutzen will, während Whity erkennen muss, dass dies zum Scheitern verurteilt ist.

Die Wüste, das Nichts, das Ex-Territoriale ist eine nur für kurze Zeit mögliche Stätte der Gefühle jenseits des Geldes. Das Scheitern von Whity und Hanna hat trotzdem etwas Tröstliches, weil es das Scheitern eben jenseits dieser Allmacht verkörpert. Gleichzeitig ist dieser tröstliche Schluss aber auch geprägt von der tragischen Einsicht der Aussichtslosigkeit eines freien Lebens freier Menschen innerhalb der bestehenden Strukturen. In gewisser Weise ist „Whity“ damit eben auch ein Schritt in Richtung „Lola“ und „Die Ehe der Maria Braun“ und etlicher anderer Filme Fassbinders, in denen es um die Möglichkeiten und dann auch historischen Voraussetzungen eines Lebens von Freien in unserer Gesellschaft geht. Die Verzweiflung paart sich hier immer mit dem Trost, die Unmöglichkeit mit dem Ausspähen von Utopie.

© Bilder: Arthaus
Screenshots von der DVD