Wolfzeit
(Le temps du loup)
Frankreich, Österreich, Deutschland 2003, 110 Minuten
Regie: Michael Haneke

Drehbuch: Michael Haneke
Director of Photography: Jürgen Jürges
Montage: Nadine Muse, Monika Willi
Produktionsdesign: Christoph Kanter

Darsteller: Isabelle Huppert (Anna), Anaïs Demoustier (Eva), Lucas Biscombe (Ben), Hakim Taleb (junger Ausreißer), Béatrice Dalle (Lise Brandt), Patrice Chéreau (Thomas Brandt), Rona Harter (Arina), Maurice Bénichou (M. Azoulay), Olivier Gourmet (Koslowski), Brigitte Roüan (Béa), Daniel Duval (Georges), Pierre Berriau (Fred), Marilyne Even (Frau Azoulay), Florence Loiret (Nathalie Azoulay)

Ausnahme und Regel

„Eine Frage, die man sich immer
wieder stellen muss lautet: Warum
mach einer einen Film? Wenn er ihn
glamourös machen will, so sind seine
Ziele klar: die Zerstreuung anderer
und das Geld. Wenn man Film als Kunstform
sehen will, dann kann man das aber
nicht tun. Weil es eine Lüge ist, und
die Lüge ist das Gegenteil der Kunst.”
(Michael Haneke)

„Zusammenbruch“ bezeichnet einen Prozess des schleichenden, aber umso deutlicher werdenden Verlusts an Kommunikation und Gewinns an Gewalt. Dabei ist unerheblich, ob es sich um einen gesetzten oder scheinbar willkürlichen Vorgang handelt,

– um das, was der von Hitler so faszinierte Staatsrechtler Carl Schmitt als Ausnahmezustand feierte,

– um die verbreitete Angst des Zusammenbruchs zivilisatorischer Strukturen, die sich in immer weiteren Varianten von Sicherheitsideologien eine Art Rettungsventil zu schaffen sucht, oder

– um die existentielle Angst des Individuums vor dem Verlust der eigenen Subjektivität in einer Welt, in der der Begriff Sicherheit nur eine fahle Umschreibung defizitärer sozialer Zusammenhangsstrukturen mehr notdürftig bezeichnen kann.

Das Hollywood-Kino verortet solche Destruktionsprozesse zumeist in bombastischen, in modernste technische Möglichkeiten gekleidete Phantasiegebilde, deren Abschluss regelmäßig eine gewollt konstruierte Form von Erleichterung bildet, eine scheinbare Erlösung von den realen Ängsten. Zu diesen, im weitesten Sinn des Wortes „Katastrophenfilmen” kann man stehen, wie man will. Vielleicht implementieren sie eine der modernen Gesellschaft inhärente und in gewisser Weise auch notwendige geradezu psychotherapeutische Komponente, so, wie das Individuum in gewissen Situationen ebenfalls der fremden, kompetenten Hilfe bedarf.

Michael Hanekes „Wolfzeit” geht da einen ganz anderen Weg. Der Film ist allem Pomp, allen Übertreibungen, allen übertriebenen Dramatisierungen, Knalleffekten des Hollywood-Kinos, jedem Theatralisieren fern – so umstritten andererseits Hanekes Film, auch bei seinen Fans, die die „Die Klavierspielerin” oder „Code: unbekannt” mögen, sein mag. (1)

Ein Ehepaar mit zwei Kindern betritt ein Wochenendhäuschen im Wald. Kurz darauf ist der Vater Laurent (Daniel Duval) tot. Seine Beschwichtigungsversuche gegenüber einem Mann, der sich mit Frau und Kind zu dem Haus Zugang verschafft hatte und der mit dem Gewehr die ganze Zeit auf die Familie zielte, waren ohne Erfolg. Der Mann (Pierre Berriau) schießt, vielleicht mehr aus Unsicherheit und Angst, den aus Tötungsabsicht. Das Reden hat ein Ende. Der Getötete redete zu viel, könnte man meinen. Der Mörder lässt die Frau, Anna (Isabelle Huppert), und deren Kinder Ben (Lucas Biscombe) und Eva (Anaïs Demoustier) gehen und behält die Lebensmittel und fast alles andere, was die Familie Laurent mitgebracht hat, einschließlich des Autos. Anna muss ihren Mann begraben.

Rasch wird deutlich, dass es sich hier nicht um einen x-beliebigen Überfall handelt. Kein Mensch in dem nahe gelegenen Ort will Anna und den Kindern helfen. Ob sie, die aus der Stadt stammt, nicht wisse, was hier los sei, fragt sie ein Mann. Eine Frau gibt ihr zwar etwas zu essen, aber mit der Bemerkung, das würde sie nicht noch einmal tun. Irgendwo im Ort verbrennen Nutztiere. Anna und die Kinder ziehen weiter, in der Nacht. Was hier wirklich geschehen ist, lässt Haneke offen. Jedenfalls scheinen die „normalen” gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr zu funktionieren. Anna und die Kinder kommen unter, in einer Scheune.

Rasch wird auch deutlich, dass dieser sich abzeichnende Ausnahmezustand sich von der Normalität in entscheidenden Punkten kaum zu unterscheiden scheint. Während die Frau Freds, der Georges erschossen hatte, hysterisch auf diese Tat reagiert, bleibt Anna völlig gefasst, fast gleichgültig. Die Kinder reagieren, als wenn sie das alles noch nicht richtig begriffen hätten. Die Ebenen von Normalität und Ausnahme scheinen sich zu vermischen. Als mitten in der Nacht Ben plötzlich verschwunden ist, versucht Anna verzweifelt – sie und Eva zünden Stroh an, um Ben den Weg zurück zu erleichtern –, ihren Sohn zurückzuholen. Der Minimalismus, mit dem Haneke hier und im weiteren Verlauf des Films die Handlung vorantreibt, ermöglicht immer wieder eine differenzierende Sicht auf dieses Verhältnis von Regel und Ausnahme und deren Kontext. Als Ben im Morgengrauen wieder auftaucht, hält ihn ein vielleicht 15jähriger Junge (Hakim Taleb) fest, ein Ausreißer, eine Hirt, einer, der sich durch die veränderte Situation in Misstrauen und Angst völlig allein durchschlagen will, dann aber Anna und die Kinder bis zu einem Bahnhof begleitet, in dem sich etliche andere, ja, soll man sagen: Überlebende, eingefunden haben, darunter Koslowski (Olivier Gourmet), der, vielleicht auch, weil er eine Waffe hat, das Ruder in die Hand genommen hat, um den nächsten Zug, der hier durchfahren will, zu stoppen.

„Ich sage nicht, das Kunst Wahrheit
ist, aber sie ist der Versuch der
Genauigkeit. Und Genauigkeit kann
keine Lüge sein. Insofern bin ich
allergisch gegen sehr viele Filme,
oft gerade auch gegen jene, die
die Kritiker so schätzen.”
(Michael Haneke)

Die Verhältnis der Anwesenden scheint minimalisiert auf Tauschhandel. Jeder, der noch irgend etwas besitzt, Zigaretten, Lebensmittel, Schmuck, tauscht. Das meiste Wasser in der Umgebung scheint verseucht, überall liegen verendete Tiere. Einige wenige bewaffnete Männer auf Pferden scheinen noch so etwas zu haben wie Macht. Sie verkaufen Wasser – Geld aber spielt hier keine Rolle mehr.

Das Verhältnis der Menschen ist aber auch geprägt durch Auseinandersetzungen, die sich nicht nur an der Rolle, die sich Koslowski zuerkannt hat, festmachen. Vor allem die Brandts (Béatrice Dalle, Patrice Chéreau) bieten Koslowski – mehr hilflos – die Stirn. Diese Hilflosigkeit lässt einige andere phantasieren, z.B. von angeblich 36 Gerechten, deren Existenz ausschließlich garantieren würde, dass die Welt nicht völlig untergeht, dass es weitergeht. Béa (Brigitte Roüan) ist eine dieser Phantasierenden.

Anna und ihre Kinder werden zu einigen unter vielen. Immer mehr Menschen erscheinen auf dem Bahnhofsgelände. Mit einem Flaschenzug schafft man einen Wagon auf die Strecke, um den nächsten Zug zum Halten zu zwingen – um endlich hier wegzukommen, ohne zu wissen, ob es andernorts anders ist, eben „normal“. Auch Fred erscheint dort. Anna klagt ihn an, aber es steht Aussage gegen Aussage. Kein Richter ist anwesend.

Windzeit, Wolfzeit, keiner will den anderen schonen. Der Filmtitel stammt aus der Edda, dem Codex regius, dem Gesang der Seherin, die das Ende der Welt beschreibt. Allerdings ist „Wolfzeit” selbst alles andere als Teil eines Mythos, einer Sage oder ähnlichem. Da gibt es nichts Spektakuläres, nichts, was auf einen fulminanten Höhepunkt zusteuert, nichts, was sich unter dem Begriff Aufregendes subsumieren ließe. Selbst in der Ausnahme bleibt alles „normal“. Und gerade dieser Minimalismus und die Tatsache, dass Haneke im engeren Sinn gar keine Geschichte erzählt, sondern eher eine Zustandsbeschreibung in Bilder fasst, lässt sowohl das Klaustrophobische, das Beengende, das Zuschnürende dieses Zustands spüren wie die Nähe von Norm und Regel und ihre, man könnte sagen „genetische” Verwandtschaft erahnen. Die humanitäre Ader, die der Film jedoch auch enthält, der moralische Rest sozusagen, der sich in dieser Ausnahmesituation zeigt, personifiziert sich vor allem in Eva, der Tochter Annas, die einen Brief an ihren toten Vater schreibt (der Versuch einer Art Selbstvergewisserung), die versucht, den jungen Hirten, der namenlos bleibt, von seinem egozentrischen Weg abzubringen, die ihren Bruder Ben schützen will, so gut sie es eben kann. Es mag wenig überraschen, dass es Kinder und Tiere sind, die vor allem unter dieser Situation zu leiden haben. Eine mit der Kamera festgehaltene Tötung eines Pferdes und der Selbstmord der Tochter eines Paares verdeutlichen dies. Es sind vor allem aber eben auch die Kinder, in deren Reaktionen sich der moralische Rest Luft verschafft.

„Ästhetik ohne Moral ist Kitsch –
und Moral ohne Ästhetik ist auch
Kitsch, nur eben in die Gegenrichtung.
Das ist dann emotionaler,
gut gemeinter Schmarrn.”
(Michael Haneke)

Und hier gilt vor allem das Ende des Films als eine Art stilles Fanal. Die vorletzte Szene zeigt Ben, der sich entkleidet hat, und sich in einem Feuer, das die Erwachsenen auf dem Gleis entfacht haben, um den nächsten Zug anzuhalten, verbrennen will. Sie zeigt, wie einer der bewaffneten Männer ihn davon abhält, auf ihn einredet, der Wille, es zu tun, reiche aus, aber der Tod würde nichts ändern. Die letzte Szene zeigt aus einem fahrenden Zug heraus blühende Landschaften – eine der wenigen Szenen in satten Farben. Beide Szenen suggerieren Rettung, Erlösung, und vielleicht sind es diese beiden Szenen, die Haneke in einigen Besprechungen des Films so bittere Kritik eingebracht haben. Ich vermute, dass hier ein Missverständnis, wie immer es auch zustande kommen mag, vorliegt. Ich sehe in diesem Schluss etwas Moralisches, aber keineswegs im Sinne einer theatralisch überhöhten Gutmensch-Ideologie oder gar eines Lehrstücks. Es ist eine zutiefst kritische und zweifelnde Moral, was sich allein schon aus der Art der Inszenierung beider Szenen ergibt. Man könnte sogar von einer Moral sprechen, die den Zynismus im Verhältnis von Regel und Ausnahme bloß stellt, so paradox dies auch klingen mag. Die Art und Weise, wie der Mann auf Ben einredet, spricht von der Hilflosigkeit der Erwachsenen angesichts der Situation, und die Zugfahrt, bei der man keinen Menschen sieht, von einer möglichen, aber keineswegs sicheren Rückkehr in eine Normalität, die sich eben von der Ausnahmesituation nur bedingt unterscheidet.

So, wie in den Strukturen der Zivilisation die Charakteristika im Verhalten der Menschen, ihre Mentalitäten bereits angelegt sind, die sich dann in der Ausnahme offenbaren, erwächst eben insgesamt die Ausnahme aus der Regel selbst, ist von ihr bestimmt. Gerade hierin liegt ja das Erschreckende, das Beengende, das was einem eigentlich schon in der Normalität die Luft zum Atmen nehmen müsste, sich aber „nur“ in mehr oder weniger diffusen Ängsten kanalisiert. Im Katastrophenfilm des Hollywood-Kinos – man erinnere sich – werden aus Menschen, die in der Normalität Arschlöcher sind, in der Ausnahme zuhauf geläuterte Gutmenschen – nicht aus allen, aber aus vielen. Der, der böse bleibt, erfüllt im Katastrophenfilm nur die Funktion des dramaturgischen Effekts. Wenn alle in der Ausnahmesituation gut würden, wäre eine Inszenierung hinfällig. Bei Haneke ist das definitiv anders, weil er insgesamt und auf einzelne Menschen im Film bezogen, eben die Ausnahme nicht als etwas definiert und zeigt, was sich von der Norm fundamental unterscheidet.

© Bilder: absolut medien

(1) Vgl. die Kritiken in der Filmzentrale:
Janis El-Bira, Thomas Groh, Benjamin Happel